Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

„Die Verhältnisse zum Tanzen bringen…“

Über Musik und Politik

erschienen in: Marvin Chlada / Gerd Dembowski / Deniz Ünlü (Hrsg.): ALLES POP? Kapitalismus und Subversion. Alibri-Verlag. Aschaffenburg 2002.

Der vorliegende Aufsatz folgt einem Vortrag, den ich an einem für mich (wie wohl auch für die Leserschaft) recht exotischen Ort hielt, nämlich an der Schule für Verfassungsschutz. Ich will kurz erzählen, wie es dazu kam:

Im März oder April 2001 klingelte morgens das Telefon. Als ich den Hörer abhob, meldete sich auf der anderen Seite eine sonore Stimme, die das Gespräch auf eigentümliche Weise eröffnete: „Bitte erschrecken Sie nicht, hier ist der Verfassungsschutz!“ „Aha!“, sagte ich. Im ersten Moment dachte ich natürlich, dass es sich um einen Scherz handelte, aber das sollte sich als Irrtum erweisen. Mein Gesprächspartner führte aus, dass sich die Schule für Verfassungsschutz, an dem die Verfassungsschützer des Landes ihre Ausbildung absolvieren, dem lange vernachlässigtem Thema „Musik und Politik“ widmen wolle. Man habe festgestellt, dass Musik vor allem innerhalb der rechten Szene große Bedeutung habe. Um nicht nur im eigenen Saft zu schmoren, wolle man das Experiment wagen, Experten „von außen“ zu einem entsprechenden Weiterbildungsseminar einzuladen. Auf der Suche nach geeigneten Referenten sei man auf mich gestoßen. Ob ich, der ich ja vor allem in freigeistigen Kreisen wirke, interessiert sei, meine Ansichten vor Verfassungsschützern vorzutragen?

Ich überlegte nicht lange und sagte spontan zu – nicht wegen des verabredeten Honorars, das sich in durchaus überschaubaren Grenzen hielt, sondern weil es mich reizte, eine Institution näher kennen zu lernen, die ich als libertär denkender „Linker“ verständlicherweise mit Skepsis verfolgte und von der ich annehmen konnte, dass sie auch mich in der Vergangenheit wohl eher kritisch beäugt hatte.

Zugegeben, das vorgegebene Vortragsthema klang recht abstrakt und hölzern: „Musik als Transportmittel für Ideologien sowie als Auslöser (extrem) politischer Kommunikation, Agitation und Rekrutierung von Außenstehenden“. Aber das Thema hatte es in sich: Innerhalb von vier Stunden sollte ich das Verhältnis von Musik und Politik in allgemeiner Form darstellen, die Bedeutung der Musik für jugendliche Subkulturen umreißen und mögliche Reaktionsweisen des Staates skizzieren. Nachdem ich das Referat konzipiert und die entsprechenden Musik- und Videobeispiele ausgesucht hatte, beschlich mich die leise Befürchtung, dass der Vortrag möglicherweise in einem Eklat enden könnte.

Zu meiner Verwunderung jedoch entwickelte sich die Veranstaltung anders, als ich es erwartet hatte. Die Verfassungsschützer stimmten mit meinen Ausführungen größtenteils überein und es entwickelte sich eine freundliche, offene und durchaus fruchtbare Diskussion. Von Eklat konnte keine Rede sein. Im Gegenteil: Die Reaktionen waren so positiv, dass ich ein zweites und ein drittes Mal zum gleichen Thema eingeladen wurde.

Es ist – wie ich finde – eine höchst amüsante Angelegenheit, dass dieser Vortrag, der ursprünglich für ein Organ des Verfassungsschutzes konzipiert wurde, nun in einem anarchistischen Verlag erscheint. (Das so etwas überhaupt möglich ist, sollte uns verdeutlichen, dass die Welt doch ein wenig komplexer und facettenreicher ist, als sich das Schwarz-Weiß-Fanatiker und Verschwörungstheoretiker rechter wie linker Couleur ausmalen können.)

Für den Abdruck wurde der Vortrag formell leicht überarbeitet (die direkte Anrede wurde gestrichen und leider können hier auch die verschiedenen Hör- und Videobeispiele nicht wiedergegeben werden), ansonsten aber stimmt der Aufsatz mit dem Vortrag bei den Verfassungsschützern überein. So kann der kritische Leser/die kritische Leserin all die Argumente nachvollziehen, die in der Schule für Verfassungsschutz zu Gehör gebracht und in gewisser Weise auch goutiert wurden.

Zum Aufbau des Textes: Der Aufsatz ist in vier Teile untergliedert. Der erste Teil (Platon, Goebbels und der Große Diktator: Über das Verhältnis von Musik und Politik) geht den Zusammenhang von Musik und Politik in einer sehr allgemeinen Form an und stellt dabei vor allem die „Tiefenpolitische Dimension“ der Musik in den Vordergrund. Teil 2 (Kann Musik die Welt verändern? Die Musik der alten und neuen Linken) veranschaulicht dieses Konzept am Beispiel der sogenannten „linken“ Musik und verdeutlicht die nivellierende Macht des Marktes, die so manchem subversiven Musiker zum Verhängnis wurde. Im dritten Teil (Sag mir, was du hörst und ich sage dir, wer du bist: Musik als Bindemittel jugendlicher Subkulturen) wird untersucht, welche Rolle die Musik in jugendlichen Subkulturen spielt, wobei vor allem die Unterschiede zwischen der linksautonomen und der Skinhead-Szene berücksichtigt werden. Im vierten, abschließenden Teil (Musik, Politik, Verfassungsschutz: Zensur in der offenen Gesellschaft?) wird auf der Basis der vorangegangenen Argumentation dargelegt, wie sich der Staat heute dem Problem der musikalischen Agitation stellen sollte.

1.Teil
Platon, Goebbels und der Große Diktator:
Was hat Musik mit Politik zu tun?

Musik und Politik - eine historische Skizze

Die Geschichte der Musik ist - auch wenn dies lange übersehen wurde - eine politische Geschichte. Herrscher aller Zeiten haben sich der Musik bedient, haben gefällige Komponisten und Musikstile gefördert, ungefällige zensiert. Gebildete Herrscher beriefen sich dabei gerne auf den alten Platon, der in seinem berühmten Werk „res publica“, zu deutsch: „der Staat“, folgenden Dialog niederschrieb:

„Vor Neuerungen der Musik muss man sich in Acht nehmen; denn dadurch kommt alles in Gefahr [...] Nirgends wird an den Gesetzen der Musik gerüttelt, ohne dass auch die höchsten Gesetze des Staates ins Wanken geraten. [...] Dort müssen also die Wächter ihr Wachhaus bauen: in die Nähe der Musik. - Ja, Gesetzlosigkeit dringt leicht in die Musik ein, ohne dass man es gewahr wird. - Freilich, sie scheint dort bloß Spiel zu sein und ohne üble Wirkung zu bleiben. - Sie hat ja auch keine andere Wirkung [...] als dass sie sich allmählich festsetzt und heimlich auf den Charakter und die Fähigkeit überträgt, dann weiter und offener um sich greift und das bürgerliche Leben vergiftet, dann mit großer Frechheit die Gesetze und die Verfassung angreift, bis sie schließlich alles zerstört, das ganze Leben des einzelnen sowohl wie der Gesamtheit.“(1)

Für Platon und seine Nachfolger hatte Musik eine wichtige Funktion innerhalb des Gemeinwesens: Sie diente der Etablierung bzw. der Festigung der Sittlichkeit, also erwünschter staatsbürgerlicher Tugenden. Gleichzeitig stellte sie aber auch eine große Gefahr dar, die es zu kontrollieren, reglementieren galt. Nicht erst die großen Diktaturen des letzten Jahrhunderts betrachteten das musikalische Geschehen daher mit Argusaugen. Die Unterscheidung von artiger und entarteter Kunst erfreute sich bereits einige Jahrhunderte vor dem Nationalsozialismus eifriger Beliebtheit. Man denke nur an die Kirchenkonzile, die festgelegten, auf welche Weise man Gott und die Kirche tönend zu preisen habe (2).

Zweifellos aber wurde Platons Ratschlag, das Wachhaus der staatlichen Wächter in der Nähe der Musik zu erbauen, niemals so offensichtlich verfolgt wie in den kommunistischen und faschistischen Regimen des 20. Jahrhunderts. Im „real existierenden Sozialismus“ avancierte der sogenannte „sozialistische Realismus“ zur unbedingten ästhetischen Doktrin. Komponisten, die sich diesen Maßgaben nicht anpassten, wurden als „Verräter der Revolution“, als „bürgerliche Revisionisten“ diskreditiert. (3) Als besonders wichtig galt, musikalische Intellektualismen zu vermeiden. Stalin wollte - wie jeder Diktator - eine einfache, eingängige, dem vermeintlich „gesunden Volksempfinden“ entsprechende Musik.

Was Stalin und seinen Funktionären recht war, war Hitler nur billig. Auch im deutschen Reich wurde musikalischer Intellektualismus gerügt und Volksmusik zur Basis des musikalischen Schaffens erkoren. Wahre Musik sei immer im Volkstum verwurzelt, wusste Propagandaminister Goebbels zu berichten. (4) Am deutschen Wesen - auch am musikalischen - sollte die Welt genesen.

Hunderte von Kompositionen waren dem Führer gewidmet. Ähnlich verhielt es sich im real existierenden Sozialismus. Selbst etablierte, international geachtete Komponisten erlagen der Versuchung, dem jeweiligen Regime zu dienen. Die markantesten Beispiele in Nazideutschland waren Werner Egk und Richard Strauss. In der DDR konnten sich Eisler und Dessau manch peinliche Regimehuldigungskantate nicht verkneifen. Paul Dessau ließ sich sogar zu der Plattitüde hinreißen, in seine Komposition „An die Mütter und an die Lehrer“ die Kürzel der Partei, die immer Recht hatte, melodisch (durch die Tonfolge ES-E-D) einzuarbeiten.

Werfen wir aber nun einen Blick auf den Zusammenhang von Musik und Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Auch hier wurde - vor allem in den vierziger bis sechziger Jahren - die musikalische Entwicklung argwöhnisch beobachtet und - insbesondere in den christlichen Volksparteien - die Bedeutung einer gesunden, im Volkstum verwurzelten Musik in den Vordergrund gerückt. So verkündete der ehemalige Bundespräsident Dr. h.c. Heinrich Lübke 1962 anlässlich der Jahrhundertfeier des Deutschen Sängerbundes: „Keine Musikkultur wird auf Dauer gesund bleiben, wenn sie nicht aus den ursprünglichen Quellen des Volkstums gespeist wird.“ (5) Was Lübke damit meinte, verrät eine weitere Passage seiner Rede: „Es scheint mir bezeichnend für die innere Verfassung unseres Volkes zu sein, dass es bei uns noch nicht wieder zu einem neuen vaterländischen Singen gekommen ist.“(6)

Die verräterische Sequenz dieser Aussage - hierauf hat bereits Fred Prieberg in seinem ausgezeichneten Buch „Musik und Macht“ hingewiesen - lautet „noch nicht wieder“. Drückt sich hier nicht das Bedauern aus, dass die naiv vaterländische, nationalsozialistische Musikkultur nach dem Ende des Krieges zerstört wurde? Dies ist kaum von der Hand zu weisen. Zudem sollten wir nicht vergessen: Auf zünftigen Wahlkampfveranstaltungen ertönt noch immer die gleiche volkstümelnde Blasmusik, die dereinst Nazischergen in Bierlaune versetzte. Im vom Bundesverteidigungsministerium herausgegebenen Liederbuch der Bundeswehr „Hell klingen unsere Lieder“ wurden bis in die sechziger Jahre hinein NS-Kriegslieder abgedruckt. Und wie groß ist auch heute noch die konservative Klage über den vermeintlich verderblichen Einfluss von Pop- und Rockmusik auf die Jugendlichen. Der (anthroposophisch geprägte) Musikwissenschaftler Prof. Dr. Friedrich Oberkogler z.B. sieht im Aufkommen der Pop-Musik gar ein sicheres Anzeichen für den bevorstehenden Untergang der Menschheit. Ich zitiere aus seiner Schrift „Pop-Musik. Faszination der Jugend“: „Seien wir uns an dieser Jahrtausendwende bewußt: die apokalyptischen Tiere haben sich aus dem Abgrund erhoben und beginnen ihre Herrschaft auszubauen, um Menschheit und Erde aus der Bahn ihrer wesenseigenen Entwicklung zu werfen. [...] Die Pop-Musik ist für diese Mächte eine Waffe, die in der Seelensphäre dem physischen Zerstörungswerk der Wasserstoffbombe in nichts nachsteht. [...] Nicht nur die ‘Höhen’, auch der Abgrund hat seine Musik. Der ‘Underground’ des Pop ist in seiner Namensgebung symbolträchtiger, als er selbst es ahnt.“ (7)

Zweifellos aber ist solche Rede in unseren Zeiten selten geworden. Die postmodern-pluralistische Kultur des Spätkapitalismus verlangt eine grandiose Vielfalt nicht nur der Goudasorten, sondern auch der Musikarten. Pop-Musik ist etabliert. Sie stellt keine Bedrohung mehr da. Warum auch? Sie gehorcht in der Regel sklavisch den Gesetzen des Marktes, die immer mehr auch unser politisches System bestimmen. Insofern ist das politische System gegenüber musikalischen Innovationen aufgeschlossen wie noch nie zuvor. Neue Musikstile - hier unterscheiden wir uns von Platon - werden das gegenwärtige Polit-System der Vermarktung kaum erschüttern. Im Gegenteil. Sie sind höchst willkommene Phänomene, versprechen sie doch stete Umsatzsteigerung in der Musikindustrie.

Freilich: Die These eines Zusammenhangs von Musik und Politik wird dadurch nicht in Frage gestellt. Allein eine Musik, die das gängige Marktprinzip in Frage stellen würde, könnte dem gegenwärtigen System gefährlich werden. Doch um überhaupt gehört zu werden, müsste solch marktkritische Musik selbst erst einmal vermarktet werden. Ein Paradoxon, an dem so mancher subversiv denkende Musiker verzweifelte.

Der große Diktator und die tiefenpolitische Dimension der Musik

Bisher habe ich ausgeführt, dass Musik stets in einem politischen Kontext produziert, rezipiert und von Herrschern kontrolliert wurde und wird. Nicht gefragt wurde bislang nach dem eigentlichen Kern, dem Wesen der Musik. Hat Musik wirklich politische Dimensionen, wie Platon behauptete? Wenn ja: Was macht dann das Politische in der Musik aus? Konkret: War bzw. ist z.B. Wagners Musik wirklich reaktionär, wie oft behauptet wird? Sind Beethovens Sinfonien wirklich „Oden an die Freiheit“ und wenn ja: Warum krönten die Nationalsozialisten ihre Propagandaveranstaltungen ausgerechnet mit Beethovens Neunter?

Brennende Fragen, auf die ich erstmals eine befriedigende Antwort fand, als ich mir den Chaplin-Film „Der große Diktator“ unter dieser Perspektive ansah, denn in diesem Film demonstriert Chaplin – wie ich meine - in virtuoser Weise die politische Mehr- und Eindeutigkeit der Musik.

Ich gehe davon aus, dass die meisten Leser die wohl berühmteste Szene des Films kennen werden, nämlich die Szene, in der Chaplin symbolisch die Welteroberungsphantasien des Diktators Anton Hynkel darstellt. Zu den sphärischen Klängen aus Wagners Lohengrin-Vorspiel tanzt Hynkel mit dem Globus, bis dieser am Ende zerplatzt. Wagners Musik illustriert hier auf eindrucksvolle Weise die faschistischen Allmachtsphantasien des Diktators.

Nun spielt Chaplin in seiner Hitler-Parodie bekanntlich nicht nur den Diktator Anton Hynkel, sondern auch einen kleinen, bescheidenen Friseur aus dem jüdischen Ghetto. Nachdem der Friseur aus dem Konzentrationslager geflüchtet ist, kommt es aufgrund der äußerlichen Ähnlichkeit der beiden Figuren zu einer verhängnisvollen Verwechslung: Der Diktator landet im Lager, während sich der Friseur am Rednerpult wiederfindet. Die braunen Massen erwarten den Marschbefehl, doch der als Hynkel verkleidete Friseur will niemanden erobern, ausbeuten, ermorden. Stattdessen hält er eine fulminante Rede über Demokratie, Freiheit, Gleichberechtigung, er ruft rührend wie pathetisch zum Aufbau einer besseren, gerechteren Welt auf.

Auch an dieser Stelle verwendet Chaplin Wagners Lohengrin-Vorspiel. Wie kann das sein?, fragen wir uns. Ist Musik tatsächlich so beliebig, dass sie sowohl faschistische Allmachtsphantasien als auch flammende Aufrufe zu Demokratie illustrieren kann? Es scheint so.

Allerdings darf man nicht übersehen, dass hinter der offensichtlichen Gegensätzlichkeit doch eine große Gemeinsamkeit steckt: Hynkels Eroberungsphantasien und die flammende humanistische Rede des Friseurs haben eine ähnliche tiefenpolitische Struktur. Beide sind Ausdruck des sehnsüchtigen Verlangens nach Überwindung der als defizitär empfundenen Wirklichkeit. Beide wollen radikale Veränderung, streben nach „Erlösung“, wollen die Grenzen der gegenwärtigen Situation utopisch überschreiten. Allein deshalb eignet sich Wagners Musik in beiden Fällen. Mit Mozarts „Kleiner Nachtmusik“ oder Dieter Bohlens „You’re my heart, you’re my soul“ hätte Chaplin die beiden Szenen sicherlich nicht untermalen können.

Das heißt: Musik kann tiefenpolitisch eindeutig, realpolitisch hingegen vieldeutig sein. Erst in Kombination mit Wort und/oder Bild lässt sich die politische Tiefenstruktur der Musik in ein realpolitisches Gewand pressen. Dies ist der Grund dafür, dass die Musik der politischen Rechten und der politischen Linken oftmals austauschbar waren und sind. Bei aller oberflächlichen Unterschiedlichkeit ihrer Programme basierten sie doch auf einer ähnlichen Tiefenstruktur, auf einer ganz bestimmten affektiven Positionierung hin zur Welt.

Erstes Fazit

Ich habe bisher versucht darzulegen, dass Musik weit mehr ist als bloße „Organisation von Klangmustern in Raum und Zeit“. Musik ist niemals reine Form. Sie ist stets Ausdruck existentieller tiefenpolitischer Inhalte, die alles andere als beliebig sind.

Die Frage ist nun: Hatte Platon recht? Ist Musik politisch und kann sie tatsächlich die Welt verändern? In gewissem Sinne muss man diese Frage wohl mit „ja“ beantworten. Musik verändert die Welt, indem sie unser Verhältnis zur Welt verändert. Und sie macht dies auf eine geheimnisvolle, sprachlich kaum fassbare, eine die Tiefenschichten unseres Ichs beeinflussende Weise.

Allerdings - und dies scheint Platon dann doch übersehen zu haben: Eine neue Musik, die potentiell in der Lage ist, die Welt zu verändern, fällt selbst nicht vom Himmel. Vielmehr ist sie das Produkt bereits veränderter Umweltbedingungen. Insofern muss man festhalten, dass die Musik nur dann die Welt verändern kann, wenn sich die Welt anschickt, die Musik und die sie produzierenden Musiker zu verändern. Ein interessantes dialektisches Verhältnis, auf das ich im nun folgenden 2. Teil näher eingehen werde.


2. Teil
Kann Musik die Welt verändern?
Die Musik der alten und neuen Linken

Brüder zur Sonne, zur Freiheit...

Wie ich anfangs ausgeführt habe, wurde seit Platon das Verhältnis von Musik und Politik immer wieder problematisiert. Politische Herrscher verwandten viel Zeit darauf, Musik zu kontrollieren, unterstellte man doch, dass Musik unten Umständen in der Lage sei, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Eine Vorstellung, die ihnen aus verständlichen Gründen nicht behagen konnte.

Nun, wie so oft: Des einen Befürchtung, ist des anderen Hoffnung. Innerhalb der linken Widerstandsbewegung setzte man große Erwartungen in die vermeintlich revolutionäre Kraft der Musik. Dies änderte sich erst, als die ersten Funktionäre, die sich selber Linke nannten, an die Macht kamen und sogleich damit begannen, unliebsame Neuerungen in der Musik zu unterbinden. Dazu später mehr.

Konzentrieren wir uns zunächst auf die subversiven, die widerständigen Phasen linker Musikproduktion. In Deutschland erblühte in den zwanziger Jahren dank des Engagements von Dirigenten wie Hermann Scherchen, Jascha Horenstein und Karl Rankl eine starke Arbeitermusikbewegung. Musikalisch lehnten sich viele Stücke dieser Bewegung an Volksmusiktraditionen an.

Sieht man einmal von den kunstvoll-experimentellen Versuchen im Umfeld von Brecht, Weil und Eisler ab, muss man festhalten, dass sich die Musik der Linken in der damaligen Zeit wenig von der Musik der Rechten unterscheidet. Blendet man die Texte aus, kann man in vielen Fällen kaum entscheiden, ob man es mit linkem oder rechtem Musikgut zu tun hat. Zu sehr entsprechen sich die Kompositionen in Melodik, Harmonik, Rhythmik, Interpretation.(8)

Wie kann man sich die Ähnlichkeiten der musikalischen Kulturen der politisch verfeindeten Lager erklären?

In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, an eine sozialspychologische Untersuchung zu erinnern, die Erich Fromm Ende der Zwanziger Jahre im Auftrag des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in Deutschland durchführte.(9) In dieser mittlerweile berühmten Untersuchung über die Charaktereigenschaften der „Arbeiter und Angestellten am Vorabend des dritten Reichs“ kamen Fromm und seine Mitarbeiter zu politisch hoch brisanten Ergebnissen. Man fand heraus, dass sich der Anhänger der Kommunistischen und Sozialdemokratischen Partei in ihren Tiefenstrukturen bzw. Charaktereigenschaften kaum von den Anhängern der NSDAP unterschieden. Autoritäre Lebensorientierungen - gerade auch im kulturellen Bereich - herrschten diesseits wie jenseits der politischen Barrieren vor. Fromm folgerte daraus, dass der Erfolg einer wahrhaft linken - das hieß für Fromm vor allem: antiautoritären - politischen Bewegung in Deutschland nahezu ausgeschlossen sei, schlimmer noch: dass bei einer möglichen Machtübernahme der Nationalsozialisten ein Großteil der Arbeiter das Hammer-und-Sichel-Emblem sorglos gegen das Hakenkreuz eintauschen würde. Eine düstere Prognose, die - wie wir heute wissen - schrecklich wahr wurde.

Für unsere Überlegungen ist die Frommsche Studie höchst aufschlussreich, denn sie hilft, die im ersten Moment überraschende tiefenpolitische Identität linker und rechter Musik zu verstehen: Wenn autoritäre Charakterorientierungen diesseits und jenseits der politischen Fronten auftraten, so ist es kein Wunder, dass dies auch die musikalischen Formen bestimmte, schließlich wurde die Musik dieser Jahre ja vornehmlich von diesem Charaktertyp konsumiert und produziert.

Marx goes Rock´n Roll

Ein wirklich entscheidender Bruch mit der autoritären Musiktradition fand erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts statt. Mit dem Aufkommen der antiautoritären Bewegung und ihrer Musik, der Rockmusik, entwickelte sich eine „neue Ästhetik des Widerstands“. Es entstanden neue Fronten, die interessanterweise nicht nur zwischen autoritär rechter und antiautoritär linker Musik verliefen, sondern auch zwischen der antiautoritär linken Musik des Westen und der autoritär linken Musik des Ostens. Den sozialistischen Machthabern war die neue rebellische Musik der Jugend schnell ein Dorn im Auge. Zwar glaubte man zunächst, gegen die Beatwelle nicht wirklich einschreiten zu müssen. (In einem entsprechenden Dokument aus den frühen sechziger Jahren heißt es sogar scheinbar liberal: „Wir betrachten den Tanz als einen legitimen Ausdruck von Lebensfreude und Lebenslust. [...] Niemandem fällt ein, der Jugend vorzuschreiben, sie solle ihre Gefühle und Stimmungen beim Tanz nur im Walzer- oder Tangorhythmus ausdrücken. Welchen Takt die Jugend wählt, ist ihr überlassen: Hauptsache, sie bleibt taktvoll!“(10))

Bald aber wendete sich das Blatt. Nur kurze Zeit später erklärte der Genosse Erich Honecker, „daß es im Zentralrat der Freien Deutschen Jugend eine fehlerhafte Beurteilung der Beat-Musik gab. Sie wurde als musikalischer Ausdruck des Zeitalters der technischen Revolution 'entdeckt'. Dabei wurde übersehen, daß der Gegner diese Art Musik ausnutzt, um durch die Übersteigerung der Beat-Rhythmen Jugendliche zu Exzessen aufzuputschen. Der schädliche Einfluß solcher Musik auf das Denken und Handeln Jugendlicher wurde grob unterschätzt.“(11)

Konsequenz dieser Neubesinnung: Die Partei versuchte nun mit allen Mitteln, die entsprechenden Kommunikationskanäle zu schließen und die DDR-Jugendlichen vor dem Eindringen des gemeinen Rockvirus zu beschützen. Ein Versuch, der - wie wir wissen - gründlich mißlang. Als man in der Staatsführung merkte, dass der Konsum westlicher Rock- und Beatmusik auch durch Boykott und Einfuhrverbote nicht zu verhindern war, versuchte man es mit einer neuen Strategie. Staatlich ausgebildete Musikerkollektive erhielten den Auftrag, sich um den Aufbau einer „neuen schmissigen Jugendtanzmusik“ zu bemühen. Freilich: Meist (Ausnahmen bestätigen die Regel!) handelte es sich dabei nur um fade Kopien westlicher Rockmusik, die niemandem wehtaten, aber gerade dadurch auch niemanden so richtig mitrissen.

Wie anders verlief damals die Entwicklung im Westen. Die neu aufkommende Pop- und Rockmusik schrieb einen fulminanten Soundtrack zu den großen Studentenunruhen der Sechziger Jahre. Pop-Poeten und umherschweifende Haschischrebellen gaben den ehemals arg steifen politischen Diskursen der Linken eine völlig neue Note. Es formierte sich eine neue, antiautoritäre, hedonistische Linke, eine Linke, die mit dem bitteren Ernst kommunistischer Parteiprogramme nichts mehr anzufangen wusste.(12)

Selbst ein ansonsten eher unpolitischer Kopf wie Mick Jagger ließ sich damals zu politischen Statements hinreißen. Er trat an die Öffentlichkeit mit markanten Sprüchen, wie dem berühmten Satz, dass das Problem mit John Lennon sei, dass dieser nie Marx gelesen habe. (13) Außerdem schuf er gemeinsam mit Keith Richards zahlreiche Songs, die den aufrührerischen Geist der späten Sechziger adäquat ihn Töne umsetzten. Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist der Song „Street fighting man“ von 1968:

Überall höre ich den Klang marschierender Schritte, Junge
Denn der Sommer ist hier und die Zeit ist da, um in der Straße zu kämpfen, Junge
Aber was kann ein armer Junge tun, außer in einer Rock´n Roll Band zu singen?
Denn im verschlafenen London gibt es keinen Platz für einen Straßenkämpfer! Nein!
Hey, ich denke, die Zeit ist gekommen für eine Palastrevolution
Aber dort, wo ich lebe, heißt das Spiel, das man spielen muss, Kompromisslösung
Nun, was kann ein armer Junge tun, außer in einer Rock´n Roll Band zu singen?
Im verschlafenen London gibt es keinen Platz für einen Straßenkämpfer! Nein! (14)


In Deutschland sorgte vor allem die Band Ton, Steine, Scherben mit programmatischen Titeln wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ und „Keine Macht für niemand“ für zeitgeistkonforme, kritische Töne.

Allerdings: Auch wenn sich Ton, Steine, Scherben und vor allem ihr Leadsänger Rio Reiser längere Zeit auf dem Markt behaupten konnten, die wilden Zeiten der Revolte waren bald vorbei. Die revolutionären Blütenträume einer ganzen Musikergeneration zerschellten an der ganz und gar nicht revolutionär anmutenden Realität. Zahlreiche Musiker zogen sich aus der politischen Sphäre gänzlich zurück und produzierten nun an eine Musik, die keinen anderen mehr Anspruch hatte, als „gute Musik“ zu sein. Es war die große Zeit des „Artrock“. So genannte „Supergroups“ wie Yes, Emerson, Lake & Palmer und Genesis verknüpften Rock- und Jazzelemente mehr oder weniger geschickt mit Partikeln klassischer Bildungsmusik. Ihre Musik wurde immer komplexer und polyphoner. Bands wie Gentle Giant gingen sogar dazu über, mehrstimmige Fugen zu schreiben (15), was zwar erfahrene Musikliebhaber erfreuen konnte, aber mit der Realität der Jugendlichen auf der Straße kaum noch etwas zu tun hatte.

Die Revolte gegen diese Form von „Bildungsrock“ war vorprogrammiert und sie erschien in Gestalt des Punks, der das Niveau der Musik wieder auf ein Minimum reduzierte, der statt kunstvollen Metaphern einfache rebellische Botschaften in den Vordergrund stellte. (16) Freilich: Auch die subversive Kraft des Punk war zeitlich sehr begrenzt. Es dauerte nicht lange und auch der Punk verkam zu einer bloßen, hohlen Modeattitüde.(17)

Ungefähr zu dieser Zeit wurde immer mehr Musikern und Musikjournalisten bewusst, dass Popmusik kaum die Kraft hatte, die Verhältnisse wirklich zum Tanzen zu bringen. Im Gegenteil. Man mußte anerkennen, dass die Musik nach der Vorgabe der Verhältnisse tanzte. Ja, selbst die schärfste politische Aussage geriet unter den Maßstäben der Musikindustrie zur leicht konsumierbaren Ware, wurde - wie mancher Rockintellektuelle im resignativen, Adornoschen Sprachduktus feststellte - zu einer „fetischisierten, affirmativen Stütze der etablierten Ordnung“.

Welcome to the Machine: Die Musikindustrie und die nivellierende Macht des Marktes

Der überwiegenden Zahl der Musiker war es freilich ziemlich egal, dass der wahre Charakter ihrer musikalischen Produktion zunehmend als Waren-Charakter begriffen werden musste. Für sie war Musik ohnehin nicht viel mehr als eine Kombination von Fun und Geschäft. Doch es gab auch Künstler, die ihre Musik als Botschaft verstanden, die sich mit der kommerziellen Entschärfung und Verdinglichung ihrer künstlerischen Projekte nicht abfinden wollten. Hierzu gehörten nicht nur Independent-Künstler, die gewissermaßen aus ihrer Not (also der fehlenden Vermarktungsmöglichkeiten ihrer Produkte) eine Tugend machten, sondern mitunter echte Megastars wie der ehemalige Kopf der Supergroup Pink Floyd, Roger Waters.

Waters, der für einige der meist verkauften Alben der Musikgeschichte verantwortlich zeichnet (u.a. „Dark Side of the Moon“, „Wish you were here“ und „The Wall“), wurde wohl recht früh bewusst, dass die sozialistisch-humanistischen Botschaften seiner Songs im Kontext des industriellen Rockbusiness radikal entschärft werden mussten. Bereits das Album „Wish you were here“ war von seinem Konzept her eine bitterböse Abrechnung mit der Musikindustrie, die Waters zufolge nicht weiter war als eine kalte seelenlose Maschine, in der unfähige Manager danach strebten, noch den letzten Funken Geist aus der Musik zu verbannen.(18)

Im Laufe der Jahre steigerte sich Waters’ Aversion gegen das Business ins Unermessliche. Als „The Wall“ auf die Konzertbühnen der Welt kam, scheute sich Waters nicht, die für ihn beklemmende Barriere zwischen Künstler und Publikum auf drastische Weise zu verdeutlichen. Während die Musiker ihre Songs spielten, errichteten die Bühnenarbeiter eine riesige Mauer zwischen Band und Fans. Nach der Hälfte des Programms war von der berühmten Band nichts mehr zu sehen. Ein gewagtes Konzept, doch die Rechnung ging auf. „The Wall“ wurde innerhalb kürzester Zeit zu einem der meist verkauften Doppelalben aller Zeiten, alle Shows der Tour waren restlos ausverkauft, der wenig später abgedrehte Film von Alan Parker gehört bis heute zu den größten Verkaufsschlagern auf dem Videomarkt.

Trotz dieses immensen Erfolgs war Waters nicht zufrieden. Denn „The Wall“ wurde - trotz seiner magenbitteren Botschaft - auf gleiche Weise konsumiert wie jedes andere Popprodukt. Jugendliche tanzten gutgelaunt in den Diskotheken zu „Another Brick in the Wall“, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, was der Autor des Songs damit eigentlich mitteilen wollte.

Waters zog aus dieser Erfahrung wiederum radikale ästhetische Konsequenzen und spitzte seine musikalische Formsprache noch weiter zu. „The Final Cut“, das letzte Album, das Waters mit Pink Floyd aufnehmen sollte, zählt in dieser Hinsicht zu den kompromißlosesten Werken der Rockmusik. Man kann dem Album vieles unterstellen, leicht konsumierbar ist es sicherlich nicht. Untertitelt mit der programmatischen Zeile „a requiem for the post war dream by roger waters“, stellt „the final cut“ in zwölf düsteren Songs die letzten Gedanken eines imaginären Ichs dar, das in seinem Auto fahrend vom Anblick zweier Sonnen überrascht wird: den letzten Strahlen der untergehenden Sonne im Westen sowie dem Lichtblitz einer Atombombe im Osten.

Mit diesem Szenario reagierte Waters auf Maggie Thatchers Falkland-Krieg. Die bittere Schärfe seines Angriffs und der beißende Pessimismus seiner Texte ist kaum zu überbieten. Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist der Song „The Fletcher (19) Memorial Home“:

The Fletcher Memorial Home

Nehmt all eure übermächtigen Kindsköpfe zur Seite
Und baut ihnen ein Haus, einen kleinen Ort nur für sie allein
Das Fletcher Gedächtnis Haus für unheilbare Tyrannen und Könige

Und sie können sich selbst betrachten - jeden Tag
Auf den Bildschirmen eines allein ihnen zugänglichen Fernsehkanals
Sie brauchen das, um sich ihrer eigenen Existenz sicher zu sein
Es ist die einzige Verbindung, die sie fühlen

„Meine Damen und Herren, begrüßen Sie bitte Reagan und Haig, Herrn Begin mit Freund, Frau Thatcher und Paisley, Herrn Breschnew und Partei, den Geist von McCarthy, Erinnerungen an Nixon, und nun - um etwas Farbe hinzuzufügen - eine Gruppe anonymer lateinamerikanischer High-Society-Schlampen...“

Haben sie etwa erwartet, dass wir sie auch nur mit dem kleinsten Funken Respekt behandeln?
Sie können ihre Medaillen polieren und ihr Lächeln schärfen
Und sich selbst eine Zeit lang mit kleinen Spielchen amüsieren:
Bumm-bumm, bäng-bäng, leg dich hin, du bist tot!

Sicher verwahrt unter der permanenten Kontrolle eines kalten Glasauges
Und versorgt mit ihren liebsten Spielzeugen
Werden sie gute Jungen und Mädchen sein
Im Fletcher Gedächtnis Haus für koloniale Verschwender des menschlichen Lebens

Ist jeder drinnen?
Hattet Ihr eine gute Zeit?
Dann können wir jetzt mit der Endlösung beginnen.(20)

Ziemlich starker Tobak – zumindest für ein millionenfach verkauftes Pop-Album, immerhin wird hier nicht anderes erträumt als die Ausrottung beinahe der gesamten politischen Führungsriege der Welt!

Wie gesagt: The Final Cut war das letzte Album, das Waters unter dem Label Pink Floyd aufnahm. Er produzierte danach noch einige Soloalben, aber diese erlangten nie die Popularität der früheren Pink Floyd-Werke. Seine Mitmusiker waren kommerziell gewitzter. Sie fanden sich Mitte der Achtziger wieder unter dem Markenzeichen „Pink Floyd“ zusammen und plünderten den Schatz des Waters´schen Vermächtnisses hemmungslos aus. Zum großen Entsetzen von Waters ließen sie es sogar so weit kommen, dass Volkswagen ein Sondermodell „Golf Pink Floyd“ auf den Markt brachte. Auf der Präsentation des neuen Golf-Modells verkündete einer der führenden Volkswagen-Manager, Waters’ berühmte Kampfansage an das Geldsystem, der Song „Money“ von „Dark Side of the Moon“ sei seit jeher (wahrscheinlich wegen der klingelnden Kassen zu Beginn) einer seiner Lieblingssongs gewesen. Ein vernichtenderes Kompliment hätte der VW-Manager dem libertären Sozialisten Waters kaum machen können...(21)

Meines Ermessens zeigt das Beispiel „Waters“ wie kaum ein anderes die Macht und Ohnmacht neulinker Musikproduktion. Sicherlich wird niemand bestreiten können, dass Waters’ Songs das Denken und Empfinden vieler Menschen beeinflusste. (In Südafrika z.B. wurde der Song „Another Brick in the Wall“ zur offiziellen Hymne des landesweiten Schulboykotts, der sich gegen das damalige Apartheitsregime richtete.) Anderseits aber muss herausgestellt werden, dass auch Waters sich den ausgeklügelten Verwertungs- und Verdinglichungsmechanismen der Musikindustrie nicht entziehen konnte. Seine Songs wurden - solange sie sich verkaufen ließen - mit immensem Aufwand als Popprodukte vermarktet und auch als eben solche konsumiert. Nur die allerwenigsten Hörer verstanden, was Waters mit seinen Hörwerken eigentlich bezweckte. Die meisten genossen - völlig inhaltsfrei - die Attitüde seiner Kompositionen, solange das irgendwie modisch war, also den tiefenpolitischen Trends der Zeit entsprach. Als sich der Zeitgeist in den Achtzigern wandelte, tauschten sie - ohne mit der Wimper zu zucken - die düsteren Floyd-Alben gegen die poppig hochgestylten Plastikprodukte von Duran-Duran oder Wham ein. Der einstige Megastar Roger Waters war plötzlich ein Mann von gestern. Mit dem Niedergang der Verkäufe sank sein Stern am Pophimmel. Denn im Musikbusiness zählt weder Qualität noch Anspruch, sondern allein der Verkauf. Wer im Kampf um die Konsumentennachfrage unterliegt, hat nichts mehr zu melden. Wer „out“ ist, ist erledigt. (22)

Zweites Fazit

Wie gesagt: Wir müssen davon ausgehen, dass Musik nur dann die Welt verändern kann, wenn sich die Welt anschickt, die Musik bzw. die sie produzierenden Musiker zu verändern. Das heißt: Die Stones, Ton Steine Scherben und Pink Floyd, sie alle haben die Welt eine Zeit lang durchaus im neulinken Sinne verändert - und zwar, weil es ihnen gelang, den Geist ihrer Zeit in musikalische Formen zu fassen. Durch ihre Musik erreichte der Geist der Rebellion auch die Herzen jener Menschen, die in der tiefsten Provinz lebten - fernab von den politischen Auseinandersetzungen dieser Tage. So konnte sich auch der Seppl aus Niederbayern oder der Hans-Otto aus Ostfriesland ein paar Wochen lang als Straßenkämpfer fühlen. Und vielleicht verhalf es ihnen sogar dazu, einige der überkommenen Traditionen ihrer Eltern leichter über Bord zu werfen. Allerdings: Das Motivierungspotential neulinker Musikproduktion war nur solange vorhanden, solange es vom Zeitgeist getragen wurde. Als sich die Zeiten änderten, änderte sich auch die Musik. In den Achtziger Jahren war der politische Motivierungsaspekt aus dem musikalischen Mainstream fast vollständig verschwunden.

3. Teil
Sag mir, was du hörst, und ich sage dir, wer du bist:
Musik als Bindemittel jugendlicher Subkulturen

Bisher habe ich mich weitgehend mit Musik als politischem Massenkommunikationsmittel beschäftigt. Interessanter ist aber in unserem Zusammenhang ihre Funktion innerhalb spezifischer Subkulturen.

Der Begriff „Subkultur“ kennzeichnet die Lebensform eines Personenkreises mit bestimmten Auffassungen, Werten, Normen, sozialen Strukturen und Verhaltensweisen (Lebensstil), die von jenen der jeweiligen Mehrheitskultur deutlich mitunter sogar in konfliktträchtiger Weise abweichen. Die Subkultur verleiht dem Einzelnen ein höheres Maß an Identifikationsmöglichkeiten als die Gesamtkultur, weil sie die spezifischen Lebensprobleme und sozialen Daseinsbedingungen des jeweiligen Personenkreises in den Vordergrund stellt. Anders formuliert: Die Subkultur ist eine Insel der Orientierung im Meer der Unübersichtlichkeit.

Musik hat in der Entwicklung und Etablierung von Subkulturen stets eine große Rolle gehabt. Dies gilt für die Hippies wie für die Punks, für die Waver, die Rocker, die Technokids, die HipHopper, wie auch für die Skinheads. Jede dieser Gruppen hatte ihre eigene Musik, eigene Drogen, eigene Modestile, Werte und Normen.

Unter Subkulturforschern ist allerdings seit einiger Zeit strittig, ob Subkulturen heute noch als solche existieren. (23) Gegenüber früheren Zeiten nämlich, in denen sich die verschiedenen Szenen scharf voneinander abgrenzten, ist heute eine starke Stildurchmischung innerhalb der Jugendkulturen festzustellen. (24) Heutige Jugendliche konsumieren gleichzeitig Musik- und Modestile unterschiedlichster Richtungen. Es wird heute nicht mehr als Widerspruch empfunden, wenn jemand gleichzeitig HipHop, Hard-Rock, Punk, Techno, Klassik und Brit-Pop hört. Die scharfen jugendkulturellen Auseinandersetzungen, z.B. zwischen Mods und Teds, Punkern und Poppern gehören - wie es scheint - der Vergangenheit an.

Eine Ausnahme bilden hier selbstverständlich die politischen Subkulturen. Der Kampf der Skinheads mit linken „Zecken“, bzw. der „Antifas“ mit „Glatzen“ hat - wie wir wissen - eher an Bedeutung gewonnen. Musiksoziologisch betrachtet können allerdings nur die Skinheads als eine wirkliche Subkultur aufgefasst werden, denn Skinheads konsumieren in der Tat eine Musik, die im musikalischen Mainstream nicht zu finden ist. Linke Autonome hingegen bedienen sich unterschiedlichster Musikstile, von HipHop bis Punk, von Heavy Metal über Ethno-Pop bis Techno. Zwar gibt es bestimmte Bands, die sich aufgrund linker politischer Correctness besonders gut in ihren Kreisen verkaufen lassen (beispielsweise Rage against the machine, Chamba Wamba oder New Model Army), allerdings sind diese Bands zum einen stilistisch sehr unterschiedlich, zum anderen werden sie nicht nur von der linken Subkultur, sondern auch von der breiten, politisch indifferenten Masse konsumiert.

Eben deshalb kann Musik im linken Spektrum auch zu keiner Bindung an eine bestimmte Subkultur führen. Selbst wenn sich Bands wie Rage against the machine politisch eindeutig positionieren (mit Che-Guevara-T-Shirts und Freikonzerten in der autonomen Hafenstraßen-Szene) - mit ihren millionenfach verkauften Alben haben sie nicht nur den autonomen Steinewerfer aus Berlin-Kreuzberg erreicht, sondern auch den Jungbanker aus Frankfurt und den Junge Union-Anhänger aus Stuttgart. Die lautstark vorgetragene radikale, anarchistische Botschaft wird von der überwiegenden Mehrzahl der Konsumenten überhört. Nur so konnte eine Nummer wie beispielsweise „Bombtrack“ zu einem viel gespielten Hit in den Diskotheken dieses Landes werden. Der Song erzählt von den militanten Gedanken des Verfassers, der sich vorstellt, die Mächtigen und ihre Güter mit dem hitzigem Beat seines Liedes anzünden zu können. Der Refrain lautet: „Gutsherren und Machthuren, die ihr meine Leute immer wieder angegriffen habt... Brennen, brennen, ja brennen werdet ihr!“(25)

Die politische Botschaft dieses millionenfach aufgelegten Songs wurde von kaum jemand bewusst wahrgenommen. Deshalb konnte der Erfolg von Rage against the machine - trotz der klaren Aussage zur Legitimation linker Gegengewalt - auch nicht zu einer Anbindung an die linke Szene führen. Diese besaß schlicht und ergreifend nicht die Exklusivrechte für den Konsum dieser Musik, sie konnte sie somit auch nicht als internes Binde- bzw. externes Distinktionsmittel verwenden.

In der rechten Szene verhält sich die Sache nun vollkommen anders. Die Skinheadszene verfügt in der Tat über eine exklusive, eigenständige Musikkultur. Diese knüpft zwar an Musiktraditionen außerhalb der Szene an (z.B. an den Punk), kann aber aufgrund der nationalistischen und rassistischen Textinhalte nur innerhalb des rechten Milieus konsumiert werden. Dies führt dazu, dass Musik innerhalb der Skinheadszene sehr wirksam als Bindemittel nach innen und Abgrenzungsmittel nach außen wirken kann. Skinhead-Bands transportieren die gruppeninternen Werte und Normen für viele „rechte Kameraden“ klarer und vor allem unterhaltsamer als jeder national gesinnte Politiker. Durch ihren aggressiven Sound können sie in Einzelfällen durchaus auch die Gewaltbereitschaft ankurbeln. Allerdings darf man sich diesen Zusammenhang nicht als einfaches Ursachen-Wirkungs-Verhältnis vorstellen. Damit ein Skin wirklich zuschlägt, bedarf es mehr als ein paar hingerotzter Gitarrenakkorde und national gesinnter Gesangsversuche.

Dennoch sollte die Bedeutung der Musik für die Skinheadsszene nicht unterschätzt werden. Sie ist unwidersprochen eines der zentralen Kommunikationsmittel innerhalb der Szene. Ihre Bedeutung allerdings schöpft sie weniger aus sich selbst heraus, als aus dem geheimnisvollen Aroma des Verbotenen, das sie umgibt. Während die Musikkultur der Linken den harten Vermarktungsprinzipien der Musikindustrie unterworfen ist, wird die Musik der Skins vor der Marktnivellierung gewissermaßen durch Verbot geschützt. Das mag paradox klingen, trifft aber den Punkt: Das Verbot bzw. die damit einhergehende, insbesondere für Jugendliche reizvolle „Lust am Verbotenen“ steigert die Nachfrage nach rechter Musik. Eine Indizierung durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften feiert so mancher subkulturelle Musiker wie eine Nominierung zum Oscar bzw. zum musikalischen Äquivalent, dem Grammy.

Die durch gesellschaftliche und staatliche Ächtung errungene Sonderstellung der Skinhead- Musik ist dabei Stärke und Schwäche sogleich: Stärke, insofern die Musik tatsächlich als subkulturelles Rekrutierungs- und Kommunikationsmittel benutzt werden kann, Schwäche, insofern diese Musik nur wenige Interessenten erreichen und damit die Gruppe der politisch Gleichgesinnten nicht wirklich erweitern kann.

Möglicherweise wird diese fundamentale Schwäche auch innerhalb der Szene zunehmend erkannt, und so bemühen sich rechtsextreme Musikproduzenten in jüngster Zeit vermehrt, das Spektrum des rechten musikalischen Ausdrucks zu erweitern. (Zu nennen sind hier zum einen die Produktionen des rechtsextremen Liedermachers Frank Renniger, zum anderen die zuweilen ironisch sich gebenden Umdichtungen von altbekannten Stimmungsliedern durch die Skinheadband „Zillertaler Türkenjäger“.(26))

Eine weitergehende Kommerzialisierung rechten Musikguts würde aber mit Sicherheit eine empfindliche Schwächung der Bindekraft der Musik innerhalb der rechten Subkultur zur Folge haben. Die notwendige subkulturelle Exklusivität wäre nicht mehr gewährleistet. Außerdem muss man berücksichtigen, dass politische Inhalte nicht in beliebige musikalische Formen gepackt werden können. Es wäre beispielsweise unsinnig, den „stolzen weißen Widerstand“ in einem marktgängigen Tenniepop-Sound zu verkünden. Eine arisch-militante Take That- oder No Angels-Variante wird es also nicht geben. Die realpolitische Dimension des Textes und die tiefenpolitische Botschaft der Musik wären schlichtweg nicht kompatibel. Je kommerzieller ein musikalisches Konzept wird, desto weiter muss es sich von nationalen Inhalten und entsprechenden tiefenpolitischen Konnotationen befreien. Eine Band wie die Böhsen Onkelz bietet daher der rechten Szene ähnlich geringe Rekrutierungspotentiale wie Rage against the machine für die linke.


4. Teil
Musik, Politik, Verfassungsschutz:
Zensur in der offenen Gesellschaft?

Kommen wir nun zu der letztlich interessierenden, praktischen Frage: Warum und inwiefern sollten sich staatliche Ordnungsinstanzen (wie beispielsweise der Verfassungsschutz) überhaupt mit dem Zusammenhang von Musik und Politik beschäftigen?

Gänzlich verfehlt wäre es sicherlich, würden Politik und Verfassungsschutz Platon beim Wort nehmen und jede Neuerung innerhalb der Musikkultur mit Argusaugen beobachten. Die Zeiten, in denen staatliche Stellen vorgaben, welche Musik produziert und konsumiert werden dürfe, sind glücklicherweise vorbei. Ohnehin wäre es nahezu unmöglich, alle potentiell demokratiegefährdenden, musikalischen Formen zu kontrollieren. (In diesem Fall müsste man neben politischer Pop- und Rock-Musik auch weite Teile der traditionellen Volksmusik, der religiösen Gebrauchsmusik, der New-Age-Musik usw. im Blick behalten.)

Da eine platonische Generalüberwachung der Musikproduktion und -konsumtion von vornherein ausscheidet, bleibt nur eine Beschäftigung mit der Funktion von Musik als Transport- und Identifikationsmittel politischer Subkulturen übrig. Und da die linke Subkultur über keine exklusiven musikalischen Formen verfügt, wird sich das ordnungsstaatliche Engagement vornehmlich auf die Subkultur der rechtsextremen Skins konzentrieren müssen.

Allerdings ist es fraglich, ob ein staatlíches Eingreifen im Bereich der Skin-Musik wirklich von Vorteil ist. Denn jedes Verbot einer CD, jede Hausdurchsuchung bei einem Oi-Musik-Vertrieb, stärkt den Zusammenhalt der Szene, schärft die subkulturelle Unterscheidung von Insidern und Outsidern. Insofern ist es vielleicht lohnend, die bisherige Praxis zu überdenken. Möglicherweise sollte der Staat - aus taktischen wie aus rechtsphilosophischen Gründen - den Skinheads größere Freiheiten im Bereich des künstlerischen Ausdrucks erlauben.

Dies heißt selbstverständlich nicht, dass die Szene nicht weiter unter die Lupe genommen werden sollte. Gerade die Beobachtung der Produktions- und Distributionswege rechtsextremer Musiken kann hilfreich sein, den Überblick über die Szene zu behalten.(27)

Eine größere Breitenwirkung wird die Skinheadmusik – wie gesagt – zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht haben. Weder die politischen Aspekte der Texte, noch die tiefenpolitischen Dimensionen dieser Musik sind massenkompatibel. Es ist auch nicht zu befürchten, dass eine neue musikalische Formsprache rechtsextremen Bands größeren Zulauf bringen würden. Denn je weiter sie sich von ihrer genuinen musikalischen Sprache verabschieden, desto mehr werden sie auch ihre politischen Ziele verraten müssen.

Sollte sich die Skinheadszene in Zukunft zusätzlich ausbreiten können, so wird das nicht vorrangig auf ihre originäre musikalische Subkultur zurückzuführen sein, sondern auf das Unvermögen der Politik, die zentralen gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Sollte die Schere zwischen arm und reich weiter aufgehen und sich das Problem der Arbeitslosigkeit weiter zuspitzen, werden Jugendliche zunehmend anfällig werden für rechtsextremes Gedankengut. Nur dann werden sie auch für die Musik und den Lebensstil der Skinheads empfänglich sein. Wie gesagt: Musik kann die Welt nur verändern, wenn die Welt die Musik verändert.

Praktische Konsequenzen

Das Problem des politischen Extremismus und auch das Problem der Rekrutierung neuer Anhänger durch Musik lässt sich mit den Mitteln des Verfassungsschutzes und der Polizei nicht lösen. Staatliche Verbote führen zum einen zu einer stärkeren Gruppenbindung innerhalb der extrem politischen Szenen. Zum anderen würden sie bei konsequenter Anwendung all die rechtstaatlichen Freiheiten untergraben, die durch sie eigentlich geschützt werden sollen.

Man sollte die Gefahr nicht unterschätzen: Staatliche Verbotsstrategien entfalten sehr leicht eine für die Demokratie gefährliche Eigendynamik. Deshalb votiere ich für einen größtmöglichen Liberalismus im Umgang mit subkulturellen Minderheiten. Erst wenn fundamentale Menschenrechte direkt - also nicht nur symbolisch in Form von Texten, Liedern, Bildern - bedroht sind, sollte der Staat entschieden einschreiten. Alles andere öffnet staatlicher Willkür Tür und Tor. Und dass diese gefährlicher sein kann als die Machtspielchen subkultureller Minderheiten, hat die deutsche Geschichte zu Genüge bewiesen.

Kurzum: Verfassungsschutz und Polizei können nichts weiter tun, als die Szenen zu beobachten, um somit bei akuter Gefahr für Leib und Leben eingreifen zu können. Die hinter dem Extremismus stehenden Probleme lösen, kann nur eine zukunftsfähige Sozial-, Wirtschafts- und Bildungspolitik. Musikalische Initiativen wie die jüngste HipHop-Konzerttour durch Ostdeutschland können vielleicht dem einen oder anderen Jugendlichen alternative Orientierungsmöglichkeiten aufzeigen. Sie bleiben aber Makulatur, wenn die entscheidenden gesellschaftlichen Probleme politisch nicht angegangen werden.

Ich komme zum Schluss: Musik ist unbezweifelbar eine mächtige universelle Sprache, die auf der ganzen Welt verstanden wird und die die Menschen emotional tief bewegen kann. Insofern ist sie auch ein hervorragendes Medium politischer Kommunikation. Allerdings schafft sie ihre Inhalte nicht selbst, sondern schöpft sie aus der Welt. Deshalb kann Musik zur Rekrutierung neuer politischer Aktivisten nur dann genutzt werden, wenn der gesellschaftliche Nährboden hierfür vorhanden ist.

Da die musikalische Formsprache nicht beliebig ist, können mit einer bestimmten musikalischen Form nicht beliebige politische Inhalte verknüpft werden. Nur wenn Form und Inhalt kompatibel sind, wird Musik zu einem wirksamen politischen Kommunikationsmittel. Die in Form und Inhalt aggressive Musik der Skinheads erfüllt diese Norm, was erklärt, warum sie innerhalb der Szene zu einer derart starken Intra-Gruppen-Identifikation führen kann. Außerhalb der Szene jedoch muss diese musikalische Kommunikationsform notwendigerweise versagen, weil die große Mehrheit der Jugendlichen weder mit den realpolitischen Implikationen der Texte noch mit den tiefenpolitischen Dimensionen der Musik sympathisiert. Dies wird solange Bestand haben, solange es der Gesellschaft gelingt, der Mehrheit der Jugendlichen alternative Orientierungsmuster an die Hand zu geben. Dies scheint vor allem in gewissen Gebieten Ostdeutschlands problematisch zu sein. Dort könnte zweifellos auch ein vermehrtes Angebot alternativer musikalischer Events unterstützend wirken. Denn: Je größer die Auswahl an Musik, Moden und Lebensstilen, umso eher werden Jugendliche erkennen können, dass die Propagandisten der politischen Rechten nicht nur erbärmlich schlechte Politrezepte anzubieten haben, sondern in der Regel auch erbärmlich schlechte Musik.

Deshalb meine Empfehlung: Wir sollten endlich von der weit verbreiteten Verbots-Hysterie Abschied nehmen und uns in Gelassenheit üben! Lassen wir doch die Skins ihre Musik auf den Markt werfen! Wenn man sie nicht mehr durch Verbote schützt, wird die Musik der Skins zunehmend an Attraktivität verlieren. (Nebenbei: Man sollte ähnlich auch mit Hitlers „Mein Kampf“ verfahren. Das Buch ist so schlecht geschrieben, dass es bestens geeignet ist, den Nationalsozialismus bis ans Ende der Tage lächerlich zu machen. (28))

Es ist zu hoffen, dass unsere PolitikerInnen zunehmend erkennen, dass es kontraproduktiv ist, rechte Mythen durch Verbote zu schützen. Anstatt „volksverhetzende“ Werke zu verbieten, wäre es sinnvoll, sie kritisch zu kommentieren und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen (wie unlängst im Fall der sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ geschehen).

Halten wir fest: Demagogische Halbwahrheiten werden nicht durch Verbote aufgehoben, sondern durch bessere Argumente. Vertrauen wir also auf die produktive Streitkultur der Aufklärung, die einer Demokratie weit besser zu Gesicht steht als Partei-, Konzert- oder Veröffentlichungsverbote...



Anmerkungen

(1) Platon (1949): Der Staat. Deutsch von August Horneffer. Stuttgart, S.119. In der bekannten Übersetzung von Otto Apelt (Platon (1923/1988):Sämtliche Dialoge. Bd. V. Leipzig, S.140) klingt die Stelle etwas weniger poetisch. Vom Inhalt her sind jedoch keine Unterschiede festzustellen.

(2) Wehe beispielsweise einem Komponisten, der so unbesonnenen war, einen Tritonus (übermäßige Quarte) zu verwenden! Der Tritonus galt als „diabolus in musica“ und war daher strengstens verboten. (Insofern hätte ein Papst des Mittelalter unsere Polizeisirenen unzweifelhaft als Wahrzeichen des Teufels gedeutet…)

(3) Dieser durchaus lebensbedrohliche Vorwurf wurde selbst dem berühmten Komponisten Dimtri Schostakowitsch beinahe zum Verhängnis.

(4) vgl. Goebbels’ Rede auf den Düsseldorfer Musiktagen 1939. Das Tondokument dieser Rede findet sich auf der hervorragenden Zusammenstellung „Entartete Musik“ (POOL Musikproduktion, Berlin 1988, zusammengestellt und kommentiert von Albrecht Dümling)

(5) zitiert nach Prieberg, Fred (1991): Musik und Macht. Frankfurt/M., S.32

(6) ebenda

(7) Oberkogler, Friedrich (1982): Pop-Musik. Die Faszination der Jugend. Bad Liebenzell-Unterlegenhardt, S.32.

(8) Man vergleiche beispielsweise Peter Kreuders Großmacht-Hymne „Das deutsche Volk am Donaustrand“ mit Paul Dessaus berühmtem Arbeiterkampflied „Die Thälmannkolonne“ (beide Titel sind auf der erwähnten CD-Sammlung „Entartete Musik“ zu finden).

(9) vgl. Fromm, Erich (1989): Gesamtausgabe Bd.III. München. (Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive informativ auch die kritischen Ausführungen von Wolfgang Bonss in der Einzelausgabe (Fromm, Erich (1980): Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Stuttgart).

(10) Der Jugend Vertrauen und Verantwortung beim umfassenden Aufbau des Sozialismus, Berlin 1963, S.33f, zitiert nach: Wicke, Peter (1998): Rock Around Socialism. Jugend und ihre Musik in einer gescheiterten Gesellschaft. In: Baacke, Dieter (Hrsg.): Handbuch Jugend und Musik, Opladen.

(11) Honecker, Erich (1965): Bericht des Politbüros an die 11. Tagung des ZK der SED, Berlin, S. 71, zitiert nach Wicke (1998).

(12) vgl. beispielsweise Jerry Rubins Yippie-Manifest „Do it!“ (New York, 1970)

(13) vgl. Salzinger, Helmut (1972): Rock Power oder: Wie musikalisch ist die Revolution. Ein Essay über Pop-Musik und Gegenkultur.S.73f.

(14) Rolling Stones: „Street fighting man“, erschienen auf dem Album „Beggars Banquet“ (1968) [Übersetzung: MSS]

(15) Ein markantes Beispiel hierfür ist der Gentle Giant-Song „On Reflection“, erschienen auf der LP „Free Hand“ (1975)

(16) Siehe beispielsweise die in dieser Hinsicht bahnbrechende LP der Sex Pistols „Never Mind the Bollocks Here's the Sex Pistols“ (1977). Die Aversion gegen den vermeintlich „großen Rockschwindel“ wurde zur prägnanten Botschaft durch Johnny Rottens berühmtes „I hate Pink Floyd“-T-Shirt. (Allerdings – und das zeigt, dass es sich hier vor allem um eine gezielte Imagekampagne handelte – war der Sex Pistols-Sänger insgeheim Floyd-Fan – zumindest soll er dies dem Pink Floyd-Gitarristen David Gilmour gestanden haben (siehe Melody Maker, 1993)

(17) Eine der ganz großen Enttäuschungen der Popintellektuellen, vgl. Diedrichsen, Dietrich (1985): Sexbeat. Köln.

(18) vgl. Rose, Phil (o.J.): Wich one’s Pink? An analalysis if the consept albums of Roger Waters & Pink Floyd. Burlington (Canada), S.40ff.

(19) Eric Fletcher Waters, Vater des Komponisten, starb im zweiten Weltkrieg. Ihm ist nicht nur dieser Song, sondern das gesamte Album gewidmet.

(20) Pink Floyd/Roger Waters: “The Fletcher Memorial Home”, erschienen auf dem Album “The final cut” (1983), [Übersetzung MSS]

(21) Offensichtlich fiel der offensichtliche Widerspruch bzw. der Zynismus dieses völlig humorfrei vorgetragenen Satzes keinem Pressevertreter auf. (Zumindest fand ich das Statement in keinem der vielen Presseberichte zur Elefantenhochzeit von Pink Floyd und Volkswagen erwähnt.) Nach meiner Teilnahme an der großen Floyd/Volkswagen-Presseparty vom 24. März 1994 konnte ich nachvollziehen, warum Roger Waters nichts unversucht ließ, um seinen ehemaligen Bandkameraden einen Strich durch die Rechnung zu machen.

(22) Zur Funktionsweise der Rock-/Pop-Musikindustrie siehe auch das hervorragende Buch von Wicke, Peter (1987): Rockmusik. Zur Ästhetik und Soziologie eines Massenmediums, Leipzig.

(23) vgl. beispielsweise Schwendter, Rolf (1995):Gibt es noch Jugendsubkulturen? In: Ferchhoff, Wilfried et al (Hrsg.): Jugendsubkulturen – Faszination und Ambivalenz. Festschrift für Dieter Baacke zum 60. Geburtstag. Weinheim.

(24) vgl. Schulz, Burkhard (1996):Musikzapping als Ausdruck der Pluralität und Ambivalenz jugendlicher Lebenswelten. Universität Trier.

(25) Rage against the machine: „Bombtrack“, erschienen auf dem Album „Rage against the machine“ (1992) [Übersetzung MSS]

(26) vgl. Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfahlen (Hrsg.) (1999): Skinheads und Rechtsextremismus. Instrumentalisierung einer jugendlichen Subkultur. Düsseldorf.

(27) vgl. u.a. die entsprechenden Beiträge in: Farin, Klaus (Hrsg.) (1997): Die Skins. Mythos und Realität. Berlin.

(28) Dies belegt nicht zuletzt Serdar Somuncus grotesk-komische, auch auf CD erschienene Lesung „aus dem Tagebuch eines Massenmörders – Mein Kampf“ (WortArt Hörbuch, 2000)