Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier  

Die normative Kraft des Kontrafaktischen

Überlegungen zum Thema "Kunst und Avantgarde"
Auszüge aus einem Vortrag vom Dezember 1997    
 

Franz von Kutschera definierte einmal das Kunstwerk als "gelungene(n) Ausdruck [...] eines bedeutsamen Gehalts".  Diese Definition ist - im Unterschied zu vielen formalistischen Kunstdefinitionen unserer Tage - unverkennbar geprägt vom Geist der Hegelschen Ästhetik. Hegel hatte mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß wir es in der Kunst ?mit keinem bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk,  sondern mit einer Entfaltung der Wahrheit" zu tun haben.
Lassen Sie mich diesen Ansatz, der die Kategorie „Wahrheit"  zum zentralen Maßstab für die Beurteilung künstlerischer Formgebungen erhebt, kurz anhand der Unterscheidung von „Kunst" und „Kitsch" erläutern:
Kitschig sind nach modernem Verständnis all jene Artefakte, die nicht ent-täuschen, die also Täuschungen über den Zustand der Wirklichkeit verstärken, anstatt sie aufzuheben. Kitsch finden wir idealtypisch in zwei Grundformen vor:

  1. als unangemessenen Ausdruck bedeutsamer Gehalte (darunter fallen all die Werke, die mit dem Urteil ?gut gemeint" versehen werden können. Wir haben es hier mit eine Unwahrheit der Form zu tun) oder aber
  2. als angemessenen Ausdruck unstimmiger Gehalte (Unwahrheit liegt hier bereits auf der Ebene des Inhalts vor)

Wir sehen: Während Kunst Entfaltung von Wahrheit auf inhaltlicher wie auch auf formaler Ebene darstellt, bedeutet Kitsch Unwahrheit in Form oder Inhalt. Das Problem, das sich aus dieser - wie ich finde - recht griffigen Unterscheidung von Kunst und Kitsch ergibt, ist evident:
Wir brauchen einen Begriff davon, was Wahrheit bzw. Unwahrheit in Form und Inhalt bedeutet.

Im Rahmen meiner Arbeiten zur Wissenschaftstheorie  habe ich darauf hingewiesen, daß die Prädikatsvergabe „wahr/falsch" nicht auf dem Kriterium der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Aussage mit der „Außenwirklichkeit" beruhen kann, sondern einzig und allein auf dem kontextuellen Kriterium der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Aussage mit den jeweiligen erkenntnisleitenden Axiomen.
Es ist nicht sonderlich schwierig, dieses Prinzip wissenschaftlicher Wahrheitskonstruktion zu übertragen auf das Gebiet der Kunst. Man muß sich allerdings vergegenwärtigen, daß der Künstler mit seiner eigentlichen Arbeit dort erst beginnt, wo der Wissenschaftler als Wissenschaftler aufhört. Der Endpunkt des wissenschaftlichen Forschungsprozesses, also die Erkenntnis von Wahr-Falsch-Mustern, ist der Ausgangspunkt der eigentlichen künstlerischen Tätigkeit, welche darin besteht, Ausdrucksformen zu schaffen, die die jeweils akzeptierten Wahrheitskonstruktionen unverfälscht transportieren. Die spannende Frage der Ästhetik ist daher nicht die Frage nach der Wahrheit der Inhalte (dies ist eine für die ästhetische Beurteilung zwar letztlich entscheidende, aber ihr doch vorgelagerte Kategorie), sondern die Frage nach der Wahrheit oder Angemessenheit der künstlerischen Ausdrucksformen.

Was aber können wir nun unter „Angemessenheit der Ausdrucksformen" verstehen?
Ich möchte dies anhand einiger Graphiken erläutern.

 

Abbildung 1 vermittelt einen abstrakten (pragmatisch, nicht phänomenologisch gemeinten) Überblick über den künstlerischen Formgebungsprozeß

:  

 

Ausgangspunkt dieses Prozesses, der in der Regel nicht bewußt von statten geht,  ist die engagierte Erkenntnis (Diese Erkenntnis ist nicht unbedingt wissenschaftlich fundiert. Im Falle Dalis z.B. hieß die wesentliche Erkenntnis: Dali ist ein Genie...)
Aus der engagierten Erkenntnis ergibt sich eine erste, noch allgemein gehaltene  künstlerische Zieldefinition: Was möchte ich mit meinen Artefakten ausdrücken? (Der Ausdruck kann auch darin bestehen, nichts ausdrücken zu wollen...)
Aus der jeweiligen künstlerischen Zieldefinition kristallisieren sich Projektdefinitionen heraus (die Grundidee eines Musikstücks, eines Bildes, eines Romans), die wiederum die konkrete Formgebung bestimmen (in der Musik z.B. polyphone, tonale, atonale, oder modale Stimmführung), welche dann auf verschiedene Weise kritisch evaluiert werden kann.

Spannend wird die Angelegenheit, wenn verschiedene Kunstproduzenten oder -rezipienten aufeinandertreffen. Die folgenden vier Abbildungen geben die idealtypischen Diskurskonstellationen wieder, die auftreten, wenn über die zentrale ästhetische Frage, die Frage nach der Wahrheit oder Angemessenheit künstlerischer Formen verhandelt wird.

1.Fall: Inhaltlicher und formaler Konsens
In diesem Fall stimmen die ästhetisch Urteilenden X und Y in allen Punkten miteinander überein. Annäherungen an diesen Idealtypus finden wir häufig bei Vertretern der gleichen ästhetischen Schule (z.B. bei Haydn und dem frühen Mozart)
 
 2.Fall: Inhaltliche und formale Differenz
Hier ist ein ästhetischer Diskurs zwischen X und Y unmöglich. Was für X angemessen/wahr ist, hält Y für unangemessen/unwahr (und umgekehrt)
Zur Verdeutlichung möge man sich unter X einen Technofreak vorstellen, unter Y einen gläubigen Vertreter der Kunsttheorie Adornos, der ja bekanntlich schon im Jazz faschistoide Elemente zu erkennen glaubte...
Adorno hüpfend auf der Love Parade? Selbst wenn er noch leben würde, ein Ding der Unmöglichkeit!

3.Fall: Inhaltliche Schein-Differenz und formaler Konsens
Hier vertreten X und Y unterschiedliche inhaltliche Standpunkte, die sich allerdings in Merkmal „a/b" überschneiden, was dazu führt, daß sie trotz aller Unterschiede Form „a1b1" befürworten.
Ein markantes Beispiel hierfür gab Chaplin in seinem Film „Der große Diktator". In dem Film ertönt Wagners Lohengrin-Vorspiel zweimal. Das erste Mal, als der faschistische Diktator Hynkel größenwahnsinnig mit dem Erdball tanzt, das zweite Mal, als der jüdische Barbier am Ende des Films seine großartige, humanistische Rede wider den Faschismus hält. Die Unterschiede in der Aussage könnten in der Tat kaum größer sein. Und doch gibt es eine Gemeinsamkeit, die die in beiden Fällen verwendete ästhetische Figur rechtfertigt, nämlich das hier wie dort vorhandene sehnsüchtige Streben nach einer tiefgreifenden Veränderung der als defizitär empfundenen Welt...
 
4.Fall: Inhaltlicher Konsens und formale Differenz
In diesem Fall teilen X und Y zwar die gleichen allgemeinen Standpunkte, sie befürworten jedoch unterschiedliche Techniken des ästhetischen Ausdrucks. Was X ästhetisch für angemessen hält, wird von Y abgelehnt - und umgekehrt.
Ein Beispiel: Viele Expressionisten, Dadaisten, Surrealisten und Realisten zwischen den Kriegen zeigten große Übereinstimmungen,  was den gesellschaftskritischen Gehalt ihrer Werke anging, sie fanden hierfür aber verschiedene ästhetische Ausdrucksformen.

Warum diese ausführliche Erörterung zur Frage der Angemessenheit des ästhetischen Ausdrucks?
Nun, wenn - wie die aufgeführten Diskurskonstellationen gezeigt haben - ästhetische Ausdrucksformen erstens hochgradig mehrdeutig sind und zweitens im höchsten Maße von nichtästhetischen inhaltlichen Aussagen abhängen, so dürfte es sinnvoll sein, KünstlerInnen nicht wie bisher ausschließlich anhand der von ihnen benutzten Ausdruckstechniken zu kategorisieren, sondern vielmehr anhand des ästhetisch vermittelten Gehalts ihrer Werke. Der Zusammenhang von Form und Inhalt muß also in den Vordergrund rücken. Nur über ihn - behaupte ich - läßt sich künstlerischer Fortschritt überhaupt noch identifizieren.
Und damit sind wir nun endlich an unserem eigentlichen Thema angelangt: der Avantgarde.

Nach der gewaltigen Eruption des Dadaismus und den Nachwehen, die diese Eruption in den ästhetischen Diskursen zum Thema Postmoderne gefunden hat, ist es unmöglich geworden, die künstlerische Avantgarde rein formal zu bestimmen.
Bei Peter BÜRGER heißt es hierzu sehr richtig: „Die mit den [historischen] Avantgardebewegungen einsetzende Verfügung über künstlerische Verfahrensweisen vergangener Epochen [...] macht es so gut wie unmöglich, einen historischen Stand künstlerischer Verfahrensweisen auszumachen. [...] Das hat zur Folge, daß heute keine künstlerische Bewegung mehr legitimerweise den Anspruch erheben kann, als Kunst historisch fortgeschrittener zu sein als andere Bewegungen."
Ich denke, es ist nur konsequent, mit BÜRGER ein Ende der modernen Fortschrittsautomatik auf dem Gebiet der künstlerischen Materialbeherrschung einzuräumen, doch wäre es verkehrt, hieraus auch die Notwendigkeit eines Endes der Avantgarde abzuleiten.
Zwar stimmt es, daß KünstlerInnen der Avantgarde nicht mehr über die bloße Form ihrer ästhetischen Verfahrensweise zuzuordnen sind, wohl aber gelingt dies über den Nachweis eines besonderen Gehalts ihrer Werke, also über den jeweils spezifischen Zusammenhang von inhaltlicher Aussage und künstlerischer Formgebung.
Einfacher formuliert: Wenn es KünstlerInnen gelingt, adäquate Ausdrucksformen zu finden für Inhalte, die über den Iststand ihrer Zeit progressiv hinausweisen, so haben wir es hier mit ausgewiesenen VertreterInnen der künstlerischen Avantgarde zu tun - und dabei ist es egal, ob sie in ihren Arbeiten Formelemente integrieren, die seit Jahrhunderten überholt zu sein scheinen.
Denn die immer wieder problematisierte generelle Verfügbarkeit von künstlerischen Verfahrensweisen stellt kein Hindernis, sondern eine Grundbedingung für die Ermöglichung avantgardistischer Kunst am Ende des 20.Jahrhunderts dar. KünstlerInnen, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen produktiv  nutzen, die in der Lage sind, posttraditional mit den künstlerischen Stilen aller Epochen zu jonglieren, verfügen nämlich über eine vieldimensional erweiterte Klaviatur des Ausdrucks, was ihnen nicht unwesentlich helfen dürfte, Werke zu gestalten, die tatsächlich in der einen oder anderen Hinsicht über das Bestehende hinausweisen.
Zum Abschluß noch zwei Hinweise:

1. Um über das Bestehende hinausweisen zu können, müssen avantgardistische KünstlerInnen nicht nur in der Lage sein, posttraditional-flexibel mit Ausdrucksformen zu spielen, sie müssen auch über eine engagierte Erkenntnis zukunftsrelevanter Problemfelder verfügen. Insofern ist es auch konsequent, daß der Katalog zur diesjährigen „documenta 10" mehr über Globalisierung und „Sustainable development" informiert als über künstlerische Verfahrensweisen.
2. Der Begriff ?Avantgarde" steht und fällt mit der Akzeptanz bzw. Nicht-Akzeptanz der Kategorie ?Zukunft", denn die ?Avantgarde"  versteht sich per definitionem als eine Vorhut, die sich anschickt, den Weg in die Zukunft zu weisen. Avantgarde ist also auf beiden Zeitebenen verhaftet - auf der Ebene der antizipierten Zukunft, aus der sie ihre Legitimation ableitet,  - als auch auf der Ebene der Gegenwart, in der sie oft genug anstößig wirkt, weil nur die Anstößigen Anstöße zu geben in der Lage sind.

Schiller trifft die sich hier manifestierende Dialektik von Gegenwart und Zukunft recht genau, wenn er schreibt: ?Der Künstler ist zwar Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar ihr Günst-ling ist. Eine wohltätige Gottheit reiße den Säugling beizeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines besseren Alters..."

Freilich: Nachdem die in der Moderne angelegte Fortschrittsautomatik an einem Endpunkt angelangt ist, sind wir vom Schillerschen Glauben an die Möglichkeit eines „besseren Alters" weit entfernt. Dennoch: Ohne die Utopie eines „besseren Alters" (und handelte es sich auch nur um die bloße Negation des Bestehenden) kann keine Avantgarde existieren.
Die Avantgarde speist ihre Energie nämlich aus der normativen Kraft des Kontrafaktischen. Damit stellt sie eine notwendige moralische, theoretische und ästhetische Alternative zur „abgelebte[n] moderne[n] Gesellschaft" dar, der der bis heute aktuell gebliebene Avantgardist Georg Büchner nur eine einzige - typisch avantgardistische - Hoffnung entgegenbrachte:
?Sie mag aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann."


 
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