Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

Sind AtheistInnen die besseren Menschen?
Anmerkungen zur "Kriminalgeschichte des Atheismus"

Der Artikel erschien zunächst in der Zeitschrift MIZ 4/2000,
Nachdruck u.a. in  "Anleitung zum Seligsein" (Alibri 2011)

 

Dass „gute ChristInnen” nicht unbedingt auch „gute Menschen” sind, ist kein Geheimnis. Gerade diejenigen, die sich besonders stark um eine buchstabengetreue Umsetzung der biblischen Botschaft bemühen, sind selten in der Lage, tolerant und liebevoll auf ihre (oft andersgläubigen) Mitmenschen zuzugehen. Auch die rigorosen Verfechter des Korans und der Thora fallen nicht unbedingt durch ihre grenzenlose Nächstenliebe auf. Selbst der ewig lächelnde Dalai Lama hat – glaubt man den Darlegungen der in der letzten Zeit sich mehrenden Buddhismuskritiker – so manche Leiche im Keller.

Im Wettstreit um den ultimativen „Gutmenschen-Status” scheinen die Atheisten dank der Disqualifizierung ihrer religiösen Kontrahenten also auf den ersten Blick gute Karten zu besitzen. Doch sind Atheisten wirklich die „besseren Menschen”, wie so mancher Konfessionslose glaubt? Oder handelt es sich hierbei nur um eine selbstwertdienliche Wahrnehmungsverzerrung? Wäre eine Menschheit, die sich von den jenseitigen Verheißungen der Weltreligionen losgesagt hat, wirklich eine geläuterte, eine bessere Menschheit? Werfen wir, um diese Frage beantworten zu können, einen Blick auf die in konfessionslosen Kreisen gern übersehenen [i] dunklen Seiten der Religionskritik.


Die Kriminalgeschichte des Atheismus

Es gibt sicherlich nicht wenige AtheistInnen, die die „moralische Überlegenheit” ihres Denkansatzes mit einem schlichten Verweis auf Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums” begründen. Doch: So richtig es auch ist, die frohe Botschaft des Christentums an ihren wenig erfreulichen Früchten zu messen, ein solcher Schuss kann durchaus nach hinten losgehen: Viele AtheistInnen übersehen nämlich gerne, dass zahlreiche „Staatsatheisten” in der Vergangenheit kaum ein besseres Bild abgaben als z.B. der Initiator des ersten Kreuzzugs, Papst Urban II.

Joseph Stalin beispielsweise, der sich bekanntlich im Theologischen Seminar von Tiflis zum überzeugten Atheisten mauserte[ii], ging als einer der größten Schreibtisch-Massenmörder in die Geschichte ein. In der Zeit des „Großen Terrors” (1936-38) ließ er breit angelegte „Säuberungsaktionen” durchführen, die u.a. auch das Ziel hatten, die „letzten Reste der Geistlichkeit zu liquidieren”[iii]. Hierzu heißt es in einem der besseren Aufsätze des insgesamt durchaus problematischen Sammelbandes „Schwarzbuch des Kommunismus”[iv]: „Tausende von Priestern und nahezu alle Bischöfe fanden sich in den Lagern wieder, und dieses Mal wurde ein großer Teil von ihnen hingerichtet. Von den 20.000 Kirchen und Moscheen, die 1936 noch für religiöse Zwecke genutzt worden waren, standen 1941 nicht einmal mehr 1000 für den Gottesdienst offen. Die Zahl der amtlich registrierten Geistlichen wurde Anfang 1941 mit 5665 angegeben [...] 1936 waren es noch mehr als 24.000 Geistliche gewesen.”[v]

Zugegeben: Stalin als Beleg für die Inhumanität des Atheismus anzuführen, ist reichlich perfide und dementsprechend würden sich viele Verteidiger des Atheismus (mit Recht) gegen das Beispiel wehren. Stalin, würden sie sagen, war alles andere als ein Musterbeispiel des Atheismus. Gab es nicht Legionen von Atheisten, die keine Morde begangen haben, Abertausende, die selbst den Säuberungsaktionen Stalins zum Opfer fielen?

Eine solche Argumentation klingt plausibel, hat aber einen Haken: Christen könnten zur Verteidigung ihres Glaubens nahezu das Gleiche sagen, schließlich verhielten sich nur (relativ!) wenige unter ihnen wie Papst Urban II.. Außerdem waren es ja häufig auch Christen, die den Säuberungsaktionen der Kirche zum Opfer fielen. Ein gescheiter Christ könnte an diesem Punkte sogar in die Offensive gehen, könnte Deschners berühmtes Wort von den „guten Christen”[vi] umdrehen und behaupten, dass die sogenannten „guten Atheisten”, die gefährlichsten seien, weil man sie allzu leicht mit dem Atheismus verwechsle. Sein wahres Gesicht zeige der Atheismus erst, wenn er an die Macht kommt. Und triumphierend könnte er auf eine durchaus aussagekräftige Statistik verweisen, derzufolge die relative Anzahl mordender christlicher Staatsoberhäupter gering sei - verglichen mit der relativen Anzahl mordender atheistischer Staatschefs (Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot etc.).

Ein gescheiter Atheist könnte hier freilich einwenden, dass es ein bedauerlicher, tragischer Zufall gewesen sei, dass der Atheismus in Gestalt des Staatssozialismus[vii] an die Macht gekommen sei, dass die Menschen nicht unter dem Atheismus zu leiden hatten, sondern unter der Ideologie bzw. den Repräsentanten des Staatssozialismus, die den Atheismus nur für ihre Zwecke ausbeuteten. Außerdem könnte er darauf verweisen, dass die meist bürgerkriegsähnlichen Umstände der kommunistischen Machtergreifungen die Zahl der Opfer beinahe zwangsläufig in die Höhe treiben mussten.

Aber auch diese Argumente könnte ein cleverer Christ leicht für seine Zwecke ummünzen. So könnte er erklären, dass im Fall der Religion doch wohl Ähnliches gelte, dass die Menschen in der Vergangenheit weniger unter der Religion selbst zu leiden hatten als unter denen, die die Religion für ihre Interessen einspannten. Zudem könnte er behaupten, dass es ein unglücklicher Zufall war, dass sich das Christentum unter den Umständen einer Sklavenhaltergesellschaft durchsetzen musste und dass auch die Bedingungen des Feudalismus es lange Zeit nicht ermöglicht hätten, eine humanere Version des Christentums zu praktizieren. Kurzum: Die Verbrechen des Christentums seien nicht auf die Religion selbst zurückzuführen, sondern auf die widrigen historischen Rahmenbedingungen, die religiöse Führer immer wieder dazu zwangen, Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die heute (unter veränderten gesellschaftlichen Umständen) zweifellos als inhuman eingestuft werden müssten.

Was könnte unser gequälter Atheist nun gegen diese - wie es scheint - gut durchdachte Argumentation einwenden? Sollte er, das böse Vermächtnis Stalins auf der Schulter tragend, zähneknirschend einem Patt zustimmen und eingestehen, dass Atheisten doch nicht die „besseren Menschen” sind? Und – falls er wirklich zu dieser Einsicht kommen sollte: welche Konsequenzen wären daraus zu ziehen? Müsste er fortan die Religionskritik an den Nagel hängen und die Frage der Weltanschauung zur bloßen Geschmacksache erklären? Müsste er sich dem sogenannten „postmodernen Zeitgeist” unterwerfen, der uns ohnehin weismachen will, dass die Entscheidung für oder gegen Religion etwa gleichbedeutend ist mit der Frage, ob man Schokoladen- oder Vanillepudding vorzieht?

Nun, wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. So richtig und wichtig es auch ist, zu erkennen, dass die Geschichte des Atheismus keineswegs so ruhmreich ist, wie viele Atheisten glauben, - dieses Eingeständnis bedeutet keineswegs, dass wir künftig auf Religionskritik verzichten könnten. Im Gegenteil. Die Tatsache, dass die Kriminalgeschichte des Atheismus zwar kürzer, aber doch ähnlich bluttriefend ist wie die Kriminalgeschichte des Christentums, beweist umso mehr, wie wichtig religionskritische Ansätze auch heute noch sind. Warum? Ganz einfach: Weil wir es in beiden Fällen mit religiösen Phänomenen zu tun haben.


Das zentrale Problem ist die Religion - nicht der Theismus

„Theismus und Atheismus sind die beiden Enden einer Wurst.” Ich gebe zu: Früher habe ich mich über diesen Ausspruch ziemlich geärgert. Er schien mir ohne jegliche Begründung, zwei höchst unterschiedliche Phänomene in einen Topf zu werfen. Außerdem hielt ich ihn für eine schlecht getarnte Ausrede für Menschen, die sich den zentralen, existentiellen, aber mühsam zu bewältigenden Fragen des Lebens einfach nicht stellen wollten.

Im Laufe der letzten Jahre traf ich aber im freigeistigen Spektrum eine beachtliche Anzahl von Menschen, auf die der Satz dummerweise doch erschreckend zutraf: Atheisten, die so religiös fanatisiert über Atheismus sprachen, dass sie auf mich den Eindruck missionierender Wanderprediger machten, freigeistige Märtyrer, die das Misslingen ihres eigenen Lebens ausschließlich auf das Wirken klerikaler Seilschaften zurückführten, Menschen, die alle Katastrophen der letzten 2000 Jahre der katholischen Kirche anlasteten und deren Kirchenhass das Einzige zu sein schien, was ihrem Leben noch Halt zu geben vermochte.

Ich hatte den Eindruck, dass diese Menschen, die in der Regel der christlichen Religion entflohen waren, zwar ihren Gottesglauben verloren, das entscheidende Problem aber nicht gelöst hatten: Sie waren religiös geblieben, überzeugt von der unumstößlichen Wahrheit ihrer Glaubenssätze. So fest sie zuvor glaubten, Gott existiere, so waren sie nun davon überzeugt, dass er (sie oder es) nie existiert habe. Ihre Propheten der Wahrheit hießen nun nicht mehr Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, sondern Nietzsche, Marx und Feuerbach. Widerrede war verpönt wie eh und je, die Schwarz auf Weiß gedruckte Wahrheit durfte nicht in Frage gestellt werden.

Die Konfrontation mit dieser Art religiöser Atheisten rief mir immer wieder zu Bewusstsein, was mir eigentlich schon seit Beginn meines Ausstiegs aus der Religion klar war, nämlich dass das entscheidende Problem nicht der Theismus ist, sondern die Religion. Schon in dem ersten religionskritischen Aufsatz, den ich jemals veröffentlichte[viii], war dies die Grundthese. Ich plädierte dafür, den traditionellen Begriff der Religion zu erweitern: er müsste sowohl die theistischen als auch die atheistischen Heilsgeschichten umfassen.


Religionen brauchen keine Götter

Dass Religionen nicht unbedingt Gottesbilder aufweisen müssen, dürfte jedem klar sein, der sich schon einmal mit den Ursprüngen des Buddhismus beschäftigt hat. Buddhas ursprüngliche Konzeption kam ohne Götter aus und für traditionelle Buddhisten besteht insofern auch kein Gegensatz zwischen Atheismus und Religion. Wie problematisch die automatische Kopplung von Theismus und Religion bzw. Atheismus und Religionsfreiheit ist, zeigen aber auch andere Beispiele. So ist es mitunter problematisch, gewisse pantheistische Vorstellungen eindeutig zu klassifizieren. Wenn man wie Spinoza den personalen Gottesbegriff aufgibt, Gott als „Summe allen Seins” begreift, ist das nun Theismus oder Atheismus, Religion oder Philosophie? Zweites Beispiel: Wenn man wie viele New Age-Apostel den Begriff „Gott” durch den Begriff „Schicksal” ersetzt, handelt es sich dann um ein religiöses oder ein philosophisches Aussagensystem? Drittes Beispiel: Wie ordnen wir die sogenannten „Stammesreligionen” ein, die häufig auf die Vorstellung eines Gottes bzw. mehrerer Götter verzichten, aber ihren Ahnen magische Kräfte zusprechen? Sind das keine „Religionen”, nur weil sie auf die Rede von „Gott” verzichten?

Ich denke, es wäre überaus problematisch, den Religionsbegriff weiterhin an der Existenz klar umrissener Gottesbilder festzumachen. Denn erstens würden wir damit (s.o.) zahlreiche traditionelle Formen der Religion ausklammern. Zweitens würden wir verkennen, dass religiöse Grundmuster auch in scheinbar säkularen Zusammenhängen von zentraler Bedeutung sein können. Damit meine ich weniger die Verehrung gewisser „Fußballgötter” oder „Popidole” (obwohl auch dies ein spannender Gegenstand religionssoziologischer Betrachtungen sein kann) als das erst in letzter Zeit wieder entdeckte Phänomen der „politischen Religion”.


Nationalsozialismus und Kommunismus als politische Religionen

Lange Zeit war es verpönt, über den Nationalsozialismus als politische Religion zu sprechen.[ix] Dabei kann gerade die religionssoziologische Betrachtung des Nationalsozialismus viele Phänomene erhellen, für die Historiker ohne religionssoziologisches Inventar bislang keine einleuchtenden Erklärungen finden konnten.[x] Wie z.B. war es möglich, dass so große Teile der Bevölkerung mit Enthusiasmus ihr Leben für den „Führer”, die Inkarnation des „germanischen Volksgeists”, aufs Spiel setzten? Welche Bedeutung hatten die von Speer inszenierten rituellen Massenkundgebungen und das immer wieder in den Vordergrund gerückte Symbol des Hakenkreuzes? Religionssoziologische Analysen können aufzeigen, dass die Nazi-Strategen immer wieder Elemente religiöser Kulte in ihre Propaganda aufnahmen und damit ungeheuren Erfolg hatten. Selbst die unfassbare Singularität des Grauens, Auschwitz, kann unter religionssoziologischer Perspektive besser verstanden werden. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang nicht nur der traditionelle christliche Antijudaismus, der sich im Nationalsozialismus auf verheerende Weise entlud[xi], sondern vor allem auch der rituelle Charakter der nationalsozialistischen Judenvernichtung selbst. So klingt bei Joseph Goebbels unübersehbar ein archaischer (wie christlicher) Opferglaube durch, wenn er formuliert: „Opfer! Im Opfer liegt die Reinigung von Schuld! Geht den harten Gang um der Zukunft willen... Das Opfer ist alles.”[xii]. Der Sozialwissenschaftler Michael Ley hat hierin wohl zu Recht eine der wesentlichen Antriebsfedern der nationalsozialistischen Politreligion gesehen. Er schreibt: „Das Menschenopfer, das die Nationalsozialisten darbrachten, die ‘Tötung des ewig wandernden Juden’, war die politische Theologie des Nationalsozialismus. Adolf Hitler sah sich als Werkzeug Gottes, der mit dem Holocaust die Heilung Deutschlands und der ganzen Welt bringen wollte. Die nationalsozialistische Apokalypse ist das größte Menschenopfer, das die Weltgeschichte kennt [...] Der Holocaust ist die Exekution des Mythos vom Antichrist in der Moderne.”[xiii]

Die Nazistrategen selbst waren sich der religiösen Komponente ihrer Ideologie durchaus bewusst. Nur ein Beispiel unter vielen: In einem internen Strategiepapier („Sitzungsprotokoll vom 14. August 1943”) wurde vorgeschlagen, alle religiösen Bekenntnisse nach dem „Endsieg” abzuschaffen und gleichzeitig Adolf Hitler als „neuen Messias” zu proklamieren, dem als „Erlöser/Befreier” und „Gott-Gesandter” göttliche Ehren zukommen müssten. Die Propaganda müsse zu diesem Zweck nicht nur die Geburt, sondern auch das künftige Ableben des Führers in völlige Dunkelheit verhüllen, als „Rückkehr in die Gralsburg.” Dieses Papier, das u.a. vorsah, die traditionellen religiösen Kultstätten (Kirchen etc.) in „Adolf Hitler Weihestätten” umzubenennen, stieß bei Hitler auf Lob und Anerkennung. Er unterzeichnete das Schreiben mit: „Der erste brauchbare Entwurf! Zur Bearbeitung an Dr. Goebbels. Adolf Hitler.”[xiv]

Was Hitler recht war, war Stalin nur billig, auch wenn es ihm als zum Atheismus verdammten kommunistischen Staatschef natürlich nicht vergönnt war, sich der Öffentlichkeit als Gesandten Gottes zu präsentieren. Dem Personenkult um Stalin tat dies indes keinen Abbruch. Stalin stilisierte sich als übermenschlichen Propheten der bolschewistischen Säkularreligion, als vom Histomat bestimmten Führer der auserwählten Volksgruppe „Arbeiterklasse”, als unfehlbaren Papst des kommunistischen Parteipriestertums. Wie u.a. Hans Maier aufzeigte, übernahmen die russischen Kommunisten schon sehr früh zahlreiche Elemente der heftigst bekämpften theistischen Religionen. Zu denken ist hier u.a. an den kommunistischen Reliquienkult (Einbalsamierung Lenins), die Überführung der Ikonenecke in die sogenannte „Friedensecke”, die Umgestaltung der Kirchen in weihevolle „Gedächtnisstätten des Atheismus” usw.. [xv]

Wie stark die Wirkung der kommunistischen Politreligion und insbesondere die quasireligiöse Verehrung Stalins war, tritt deutlich in den vielen literarischen Lobpreisungen Stalins hervor, die mitunter stark an liturgische Weihegesänge erinnern. So verfasste Johannes R. Becher (der prominente Verfasser des Textes der DDR-Nationalhymne) zum Tode Stalins folgende religiös-kitschige „Danksagung”: [...] „Nun lebt er schon und wandert fort in allen / Und seinen Namen trägt der Frühlingswind / Und in dem Bergsturz ist sein Widerhallen / Und Stalins Namen buchstabiert das Kind. [...] Und kein Gebirge setzt ihm eine Schranke / Kein Feind ist stark genug, zu widerstehn / Dem Mann, der Stalin heißt, denn sein Gedanke / Wird Tat, und Stalins Wille wird geschehn.”[xvi] - Wie im Himmel, so auf Erden, möchte man fast ergänzen.

Ähnlich weihevolle Klänge schlug damals auch KuBa, wie Becher ein prominenter literarischer Messdiener der DDR, an: „Gesiegt! / Und alles, alles, alles ist vollbracht. / Er ruht! / Die Millionen sind die Seinen. / Sein Lächeln leuchtet uns auch diese Nacht. / Er hat die armen Leute reich gemacht. / Wir aber weinen. / Wir wissen freilich, / dass wir unbesiegbar sind. / Wir trinken seine Lehren wie den reinen / kristall´nen Wein Grusiniens. / [...] Gesiegt! / Der Schwur an Lenins Bahre ward erfüllt / Vollbracht! / Er gab uns noch ein Buch voll guter Lehren. / Die Fahnen neigen sich, in Flor gehüllt. / Wir schwör`n, Genosse Stalin! / Unser Schwur wird treu erfüllt! / In Ehren!”[xvii]

Es ist sicherlich kein Zufall, dass Stalins Lebensbilanz hier mit biblischen Worten umschrieben wird. „Es ist vollbracht” sagt der christliche Erlöser Jesus am Kreuz, „alles, alles, alles ist vollbracht” jubelt KuBa über das Lebenswerk des bolschewistischen Erlösers Stalin. Ihm, dem unbeugsamen „Hammer und Sichel-Messias” von Lenins Gnaden, gilt die bedingungslose Nachfolge, seine Lehren gilt es zu trinken wie Wein - eine kaum verdeckte Anspielung auf den Ritus des christlichen Abendmahls.

Entsprechend groß war natürlich der Schock, als die KPdSU nach dem Tode des Diktators mit der Entstalinisierung begann und die ganzen Ausmaße des stalinistischen Terrors bekannt wurden. Damals fielen viele Kommunisten vom Glauben ab, die Politreligion des Kommunismus zeigte erste Risse, gewann aber für kurze Zeit weltweit wieder an Attraktivität, als Mao den aposotolischen Auftrag zur Kulturrevolution gab und mit seiner „roten Bibel” das Evangelium des Weltkommunismus um eine neue (Un-)Heilsgeschichte erweiterte.


Was lernen wir aus der Kriminalgeschichte des Atheismus?

Wenn wir die Kriminalgeschichte des Atheismus Revue passieren lassen, wird deutlich, dass die anfangs gestellte naive Frage, ob Atheisten die besseren Menschen sind, in dieser Generalisierung sicherlich nicht positiv zu beantworten ist. Wohl gemerkt: Dies bedeutet nicht, dass nicht doch einige gute Argumente für den Atheismus sprechen. Hier sind vor allem die Widersprüche zu nennen, in die sich die Vertreter personaler Gottesbilder beinahe zwangsläufig verstricken müssen (Beispiel: Theodizeeproblem). Außerdem kann der Atheismus als Denkmethode für sich in Anspruch nehmen, dass er die wichtige Maxime der wissenschaftlichen Eleganz ernstnimmt, d.h. dass er im Unterschied zum Theismus nicht von vornherein gezwungen ist, überflüssige, komplizierte und unbekannte Größen (Gott) in seine Theorie der Welt einzubauen.

Aber – um dies noch einmal zu wiederholen: Die erkenntnistheoretischen Vorteile des Atheismus sind nicht notwendigerweise mit einem Zuwachs an Humanität verbunden. Das entscheidende Problem ist nicht die Frage, ob Götter oder Göttinnen existieren. Das entscheidende Problem ist die weitgehend anerzogene Unfähigkeit vieler Menschen, sich der eigenen Vernunft zu bedienen, ihr fehlender Mut, vermeintlich unantastbare Behauptungen in Frage zu stellen.

Mit der Frage des Gottesglaubens hat dies vergleichsweise wenig zu tun. Viele Anhänger der Weltreligionen haben durchaus ihren Beitrag zur Aufklärung und damit auch zur Befreiung von religiösen Dogmen geleistet. Dass sie dabei vielfach auf halbem Wege stehen geblieben sind, ist bedauerlich, aber beileibe keine besondere Eigenschaft theistisch denkender Menschen. (Atheisten, die sich in der Sowjetunion trauten, die offizielle Doktrin in Frage zu stellen, ging es in der Regel auch nicht anders.)

Halten wir fest: Religionen brauchen - das demonstriert das Beispiel des Stalinismus wohl am besten - keine im Jenseits beheimatete Götterwelt. Insofern ist es auch problematisch, den Atheismus als Allheilmittel gegen religiösen Dogmatismus zu verordnen. Solange Menschen glauben, es gäbe „heilige”, d.h. für alle Zeiten unantastbare Aussagen, solange unterstellt wird, dass gewisse geistige oder gar politische Führer einen privilegierten Zugang zu diesen ewigen Wahrheiten haben (das Grundwesen jeder Religion!), wird sich die Menschheit kaum in Richtung einer größeren Humanität, Offenheit und Toleranz verändern können.

Es gilt daher, eine skeptische Geisteshaltung zu fördern, die unbrauchbare Ideen sterben lässt, bevor Menschen für unbrauchbare Ideen sterben müssen. Gegen diesen kategorischen Imperativ jeder aufklärerischen Religionskritik haben religiös denkende Menschen aller Zeiten verstoßen - und zwar losgelöst davon, ob sie an die Existenz eines Gottes glaubten oder nicht. Es ist an der Zeit, nicht nur aus der Kriminalgeschichte des Christentums, sondern auch aus der Kriminalgeschichte des Atheismus die richtigen Schlüsse zu ziehen.


Anmerkungen


[i] Das Buch von Finngeir Hiorth Atheismus - genau betrachtet ist in dieser Hinsicht symptomatisch: Die „Kriminalgeschichte des Atheismus” fällt bei dieser insgesamt durchaus beachtlichen Einführung völlig unter den Tisch.

[ii] vgl. Robert Payne: Stalin. Macht und Tyrannei. 1978, S. 31ff.

[iii] Nicolas Werth: Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion. In: Courtois et al, Das Schwarzbuch des Kommunismus. 1998, S. 223

[iv] Zur Kritik des Schwarzbuchs siehe Jens Mecklenburg / Wolfgang Wippermann, „Roter Holocaust”? Kritik des Schwarzbuchs des Kommunismus. 1998

[v] Werth, S. 224

[vi] „Die guten Christen sind am gefährlichsten - man verwechselt sie mit dem Christentum:” In: Karlheinz Deschner: Nur Lebendiges schwimmt gegen den Strom. 1989, S. 83.

[vii] Unser gescheiter Atheist spricht hier von „Staatssozialismus” statt von „Marxismus-Leninismus”, weil letzterer Begriff einen Widerspruch in sich darstellt. Marxismus und Leninismus unterscheiden sich in einigen Punkten gewaltig, man kann sogar von einer Aufhebung des Marxismus durch den Leninismus sprechen (vgl. Michael Schmidt-Salomon: Proletarier aller Länder, verzeiht mir? Plädoyer für einen zu unrecht angeklagten Philosophen. In: Aufklärung und Kritik, 2/99).

[viii] Michael Schmidt-Salomon: Offenheit statt Offenbarung. In: MIZ/Materialien und Informationen zur Zeit 4/94.

[ix] Der Begriff der politischen Religion wurde bereits im Jahr 1938 durch Eric Voegelin geprägt und von ihm anhand der damals brandaktuellen Beispiele Nationalsozialismus und Kommunismus erläutert. Sein Ansatz wurde von der Geschichtswissenschaft in der Folgezeit allerdings weitgehend ignoriert, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil für viele Experten der Begriff der Religion eher positiv besetzt war. Erst Mitte der Neunziger Jahre hat eine verstärkte Beschäftigung mit dem Phänomen der politischen Religion eingesetzt. Zu nennen sind hier vor allem die Bücher von Hans Maier (u.a. Politische Religionen. Die totalitären Regime und das Christentum. 1995) und Michael Ley (Genozid und Heilserwartung. 1993), sowie Ley/Schoeps (Der Nationalsozialismus als Politische Religion. 1997). Einen kurzen Überblick über den Forschungsstand bietet Armin Pfahl-Traughber (Sind Kommunismus und Nationalsozialismus politische Religionen? In: humanismus aktuell 3/98).

[x] Dies darf freilich nicht auf eine Verabsolutierung des Ansatzes herauslaufen. Wie schon Pfahl-Traughber schrieb, lassen sich „mit den Untersuchungen von religiösen Dimensionen bei politischen Bewegungen und Ideologien [...] nur begrenzt Aussagen über das Gesamtphänomen treffen.” (Pfahl-Traughber, S. 66)

[xi] vgl. Gerhard Czermak: Christen gegen Juden. Geschichte einer Verfolgung. 1997

[xii] Goebbels zitiert nach Michael Ley: Apokalyptische Bewegungen in der Moderne. In: Ley/Schoeps, Der Nationalsozialismus als politische Religion, S.26

[xiii] Ley, S.26

[xiv] vgl. hierzu die vorzügliche Videodokumentation „Herrn Hitlers Religion” von Petrus van der Let.

[xv] vgl. Maier, S. 14f.

[xvi] Johannes R. Becher: Danksagung, in: Sinn und Form 2/1953, S.9

[xvii] KuBa: 5. März 1953, 21,50 Uhr, in: Sinn und Form 2/1953, S. 13

 

 

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