Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier 

Impulsvortrag zum Thema:
Was ist Nachhaltigkeit?
  Veranstaltung: Zukunftsfähige Uni Trier, 1.7.98
 
 

Ein Gespenst geht um auf dem Globus - das Gespenst der Nachhaltigkeit. Seit der Konferenz von Rio haben sich die Regierungen der Welt zu einem heiligen Loblied zu Ehren dieses Gespenstes verbündet. Wo ist die Partei, die sich nicht als Vertreterin der Nachhaltigkeit gerühmt, wo die Organisation, die ihre eigenen Ziele nicht als nachhaltig deklariert hätte?
Es ist unbestreitbar: Nachhaltige Entwicklung (engl. "sustainable development") ist im Jahre 6 nach Rio ein in Politik und Wirtschaft äußerst positiv besetzter Begriff, geradezu das Gegenteil von Kurzsichtigkeit, von Konzeptions- und Planlosigkeit - also all dem, womit PolitikerInnen - man verzeihe mir - in der Regel am meisten glänzen.

Was bedeutet nun der heiß begehrte Begriff "Nachhaltigkeit"?
Die Erfolgsstory des Begriffs ist eng verbunden mit der Arbeit der sog. "BRUNDTLAND-Kommission für Umwelt und Entwicklung". Die Mitglieder der Kommission hatten in ihrem Bericht 1987 mit einigem Pathos festgestellt, was eigentlich spätestens seit Beginn der siebziger Jahre kein Geheimnis mehr war, nämlich, daß unser heutiges Wirtschaften katastrophale Konsequenzen für die zukünftigen Generationen haben wird. Im BRUNDTLAND-Bericht heißt es hierzu: "Mögen die Bilanzen unserer Generation auch noch Gewinne aufweisen - unseren Kindern werden wir die Verluste hinterlassen. Ohne Absicht und Aussicht auf Rückzahlung borgen wir heute von künftigen Generationen unser "Umweltkapital". Unsere Nachfahren mögen uns ob unseres verschwenderischen Vorgehens verfluchen - unsere Schulden werden sie nicht mehr eintreiben können. Unser Verhalten ist bestimmt von dem Bewußtsein, daß uns keiner zur Rechenschaft ziehen kann. Künftige Generationen haben heute kein Wahlrecht, sie verfügen über keine politische oder finanzielle Macht und sind uns daher ohnmächtig ausgeliefert."
Dem damals wie heute gängigen Produzieren ohne Rücksicht auf die Interessen der in der Zukunft Lebenden setzten die Autoren des BRUNDTLAND-Berichts das Sustainable Development - Konzept entgegen, das Konzept einer "dauerhaften", "zukunftsfähigen" oder"nachhaltigen" Entwicklung, einer Entwicklung, die "den gegenwärtigen Bedarf zu decken vermag, ohne gleichzeitig späteren Generationen die Möglichkeit zur Deckung des ihren zu verbauen."
Freilich wurde in der Folgezeit heftig darüber gestritten, was man hierunter konkret zu verstehen habe.
Ungeachtet der definitorischen Unterschiede jedoch besteht nach HARBORTH weitgehend Einigkeit über die Mindestbedingungen, die dabei erfüllt werden müßten, nämlich: "Grundbedürfnisbefriedigung und Erhaltung befriedigender Umweltbedingungen für alle gegenwärtigen und zukünftigen Menschen, wobei auch weitere "Entwicklung"[...] als wünschenswert und möglich unterstellt wird."

Sicherlich könnte man an diesem Punkt anspruchsvollere Standards einklagen. So scheint es mir sinnvoll zu sein, nicht nur die Möglichkeit zur Befriedigung von Grundbedürfnissen, sondern prinzipiell die Chance zur Realisierung "guten Lebens" einzufordern. Demnach würde der Begriff "Sustainable Development" einen weltweit zu etablierenden Entwicklungsprozeß kennzeichnen, der darauf abzielt, prinzipiell allen gegenwärtig wie zukünftig lebenden Menschen die Chance zu eröffnen, ihre individuellen Vorstellungen von gutem Leben im Diesseits zu verwirklichen, was vor allem a) (ökologische Dimension) eine strikte Beachtung der Grenzen natürlicher Ressourcen und Senken verlangt, als auch b)(soziale Dimension) eine gerechte Verteilung der Ressourcen zwischen arm und reich sowie zwischen heutigen und zukünftig lebenden Generationen.

Allerdings: Die definitorischen Unterschiede zwischen der Harborthschen Minimaldefinition und der letztgenannten sind praktisch weit weniger bedeutsam, als dies zunächst erscheinen mag. Angesichts der bestehenden globalen Misere verlangt nämlich bereits der weitaus bescheidenere Gedanke einer globalen Grundbedürfnisbefriedigung eine wahrhaft radikale Veränderung der bestehenden Verhältnisse.
 
 

Dimensionen nachhaltiger Entwicklung

Bisher haben wir uns vor allem mit der normativen Dimension des Begriffs "Nachhaltigkeit" beschäftigt. Normativ ist dieses Konzept, weil es die zentralen Werte vorgibt, nach denen sich politische, ökonomische, ethische Entscheidungen zu richten haben.
Das Konzept der Nachhaltigkeit hat aber neben der normativen auch eine technische, eine methodische Dimension. Das Konzept schärft nämlich unseren Blick dafür, daß Fragen der ökologischen Tragfähigkeit nicht losgelöst von Fragen der sozialen Gerechtigkeit behandelt werden dürfen. Eine ökologische Maßnahme, die nicht sozial ist, ist auf Dauer eben nicht ökologisch. Eine soziale Innovation, die nicht ökologisch ist, ist letzten Endes auch nicht sozial.
Im Zentrum der Debatten über Nachhaltigkeit steht deshalb in der Regel das Begriffsdreieck Ökologie - Ökonomie - Soziales.

 


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Dies meint: Politische Entscheidungen müssen fortan stets danach beurteilt werden, ob sie sozial, ökonomisch und ökologisch tragfähig sind. Nur wenn alle drei Aspekte zutreffen, kann das Gütesiegel "nachhaltig" vergeben werden.

Kritisch sei angemerkt, daß es fraglich ist, ob durch die Dimensionen Ökologie-Ökonomie-Soziales wirklich alle relevanten Bereiche abgedeckt sind. Wo bleiben z.B. die Bereiche Kunst, Wissenschaft, Weltanschauung, Bildung und Erziehung? Wo bleibt insgesamt das Reich der Ideen? Welche Bedeutung haben die Bedürfnisse und Gefühle der Bevölkerung?
Ich bin der Meinung, daß die Ausrichtung auf die Faktoren Ökologie-Ökonomie-Soziales den Blick auf den Umfang der zu verändernden Dimensionen unzulässig verkürzt. Es geht eben nicht nur um Wirtschaft, Ökologie und Sozialordnung, nein, nachhaltige Entwicklung muß als gesamtkulturelle Aufgabe begriffen werden.
Mit dem Begriff "Kultur" kennzeichne ich (in Anlehnung an BRUCK 1997) das Gesamt der über soziale Lernprozesse entstandenen und stets neu entstehenden Begehren (Wünsche, Interessen, Neigungen, Ziele, Ansprüche...), Einstellungen (Werte, Normen, Meinungen...) Kenntnisse (Sach-, Personen-, Interaktions-, Handlungswissen) Empfindungen (Stimmungen, Gefühle...), Verhaltensweisen (Handlungen, Gewohnheiten...) sowie deren Produkte (Schrift, Kleidungsstücke, Speisen, Transport- und Kommunikationsmittel, Kunst usw.).
"Kultur" umfaßt das theoretische Verständnis und das konkrete Verhalten einer Personengruppe in bezug auf Sozialordnung, Bildung, Erziehung, Kunst, Literatur, Musik, Rechtsprechung, Politik, Religion, Sprache, Technik, Wissenschaft, Sport, Freizeitverhalten, Wirtschaftsweise, Alltagsgestaltung, Gefühlserleben, Sexualverhalten, Natur"beherrschung" usw. usf.
In diesem weiten Sinne verstanden deckt der Begriff Kultur die Bereiche Ökologie, Ökonomie und Soziales nicht nur ab, sondern ergänzt diese durch zahlreiche andere Elemente, die für die Etablierung einer nachhaltigen Entwicklung ebenso entscheidend sind.

 

 

Konsequenz: Nachhaltige Entwicklung müßte also begriffen werden im Sinne von nachhaltiger Kulturentwicklung. Wir stehen vor der gewaltigen Aufgabe, das Gesamt der über soziale Lernprozesse entstandenen Begehren, Einstellungen, Kenntnisse, Empfindungen, Verhaltensweisen sowie deren Produkte darauf auszurichten, daß allen gegenwärtig wie zukünftig lebenden Menschen die Chance eröffnet wird, ihre individuellen Vorstellungen von gutem Leben im Diesseits zu verwirklichen.
(Dies klingt vielleicht nicht revolutionär neu, hätte aber - sofern man es ernstnimmt - revolutionäre Konsequenzen, was auch meint: die globale Revolution zur Konsequenz.)
Mit einer sanften Ökologisierung der Produktion ist es nämlich nicht getan. Es geht hier um eine grundlegende Veränderung unserer kulturellen Leitbilder. Und dies umfaßt u.a. auch eine grundlegende Änderung der Art und Weise, wie wir heute forschen, lehren und lernen.
Die Universitäten sind gegenwärtig alles andere als Brutstätten nachhaltigen Denkens und Handelns. Sie sind vielmehr Orte, in denen Angst, Bluff und Entfremdung dominieren, Orte der Elitenstabilisierung und der Masseneinschüchterung.
Die auf Gerechtigkeit und Partizipation ausgerichteten Grundgedanken der Agenda 21 haben die Hochschulen noch lange nicht erreicht. Es liegt an uns, das zu ändern.


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