Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

Amerika und „das Böse“
Über den wachsenden Einfluss der christlichen Rechten in den USA

(MIZ 2/2003)

„Gottesstaat“ und „Gotteskrieger“: Bislang neigten wir dazu, bei diesen so unzeitgemäß erscheinenden Begriffen in den Nahen Osten zu schauen. Es könnte aber durchaus sein, dass wir in Zukunft vermehrt auch irritiert gen Westen blicken müssen – in die unumstrittene Machtzentrale der Weltpolitik. In den USA, der einzig verbliebenen Supermacht, hat eine christlich-konservative „Achse des Guten“ das Ruder übernommen, die im „Auftrag des Herrn“ und mit freundlichem Segen des „industriell-militärischen Komplexes“ (Eisenhower) damit begonnen hat, innenpolitisch den „liberalen Saustall Amerikas“ auszumisten und außenpolitisch die Welt auf typisch amerikanische Weise (Pax Americana) zu „befrieden“.

 

Der 11. September diente und dient den „stupid white men“ (Moore) in der amerikanischen Administration als willkommene Legitimationsbasis für politische Maßnahmen, die sowohl völkerrechtlichen Bestimmungen zuwiderlaufen als auch dem ursprünglich durchaus liberaleren innenpolitischen Klima der USA widersprechen. Trotz starker Proteste ist es der einst so starken amerikanischen Bürgerrechtsbewegung bisher nicht gelungen, wirksam gegen die nach außen imperialistische, nach innen antiliberale Politik der US-Regierung vorzugehen. Amerikanische Intellektuelle wie Richard Rorty hoffen mittlerweile verzweifelt auf Hilfe aus dem „alten Europa“, um dem konservativen Rollback in der „neuen Welt“ entgegenzuwirken.(1) Aus eigener Kraft heraus, so scheint es, ist die amerikanische Zivilgesellschaft zur Zeit nicht in der Lage, die verhängnisvolle Politik des konservativen Machtkartells zu durchkreuzen.

Unverdrossen setzt die Regierung Bush derweil auf die erfolgreiche Devise „Stimmung statt Argumente“ und unterstützt jede Initiative, die verspricht, den machterhaltenden Mix aus Religion & Patriotismus zu fördern. So wurde jüngst US-Postal gezwungen, sich der Kampagne eines glaubensfesten Rentners zu beugen und in allen 38.000 Filialen des Landes ein Plakat mit der Aufschrift „In God We Trust“ aufzuhängen. Der Verlauf der Kampagne gegen US-Postal verrät viel über die gegenwärtigen Zustände in den USA: Anfang November 2002 war der Rentner Frank Williamson mit einem Bild unter dem Arm im Postamt von Montgomery aufgetaucht und hatte die Angestellten gebeten, ein Poster aufzuhängen, auf dem „In God We Trust“ in goldenen Lettern vor einer wehenden US-Flagge prangte. Der örtliche Postbüroleiter lehnte es jedoch ab, das Poster im Office anzubringen, weil die Post zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet sei.

Verärgert verschickte Williams Leserbriefe an Zeitungen und schrieb mehreren republikanischen Abgeordneten und Senatoren, darunter u.a. an Präsident George W. Bush und Vizepräsident Dick Cheney. Mit durchschlagendem Erfolg: „Als es Williamson bis in eine beliebte Fernsehshow schaffte, drohte die Provinzposse für die US-Post zur peinlichen PR-Schlappe zu werden. Denn seit dem 11. September 2001 lassen sich in den USA mit nichts schneller Minuspunkte sammeln als mit vermeintlich oder tatsächlich unpatriotischem Verhalten. Die Post trat flugs den Rückzug an und versprach die Produktion eines eigenen Posters mit der Freiheitsstatue in der Bildmitte und dem Gottes-Motto über der Krone.“(2)

Wie sehr das toxische Gemisch von Patriotismus & Religion die Gehirne der amerikanischen Entscheidungsträger benebelt, zeigten auch die aus europäischer Sicht obskur wirkenden Abstimmungen in Senat und Repräsentantenhaus im März 2003. Damals beschlossen beide Kammern mit überwältigender Mehrheit die Einrichtung eines „offiziellen Gebets- und Fastentags für die im Irak stationierten amerikanischen Soldaten“. Im offiziellen Text des von Georg W. Bush initiierten Aufrufes hieß es, ein „Tag des Fastens und des Gebetes“ sei „notwendig (!!), um den Segen und den Schutz der göttlichen Vorsehung für das Volk der Vereinigten Staaten und unsere Streitkräfte während des Konfliktes in Irak und der Bedrohung durch den Terrorismus zu Hause zu sichern.“(3)

Bislang scheinen die amerikanischen Gerichte noch ein gewisses Korrektiv zum religiös-patriotischen Trend darzustellen. So lehnte ein US-Berufungsgericht kürzlich eine Eingabe Bushs ab und erklärte den an US-Schulen geleisteten Treueschwur („Ich schwöre Treue auf die Fahne der Vereinigten Staaten von Amerika und die Republik, für die sie steht, eine Nation unter Gott, unteilbar mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle.“) aufgrund der in der Verfassung verankerten Trennung von Staat und Kirche für verfassungswidrig.(4) Allerdings ist zu befürchten, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der „neue alte Geist“ des religiösen Fahnenkonservatismus auch die Gerichtssäle der USA erreicht.

 

Inseln der Geborgenheit in einem Meer der Unübersichtlichkeit

Es wäre zweifellos zu eng gegriffen, würde man die gegenwärtigen Entwicklungen in Amerika allein auf den „11. September“ zurückführen.(5) Die USA waren seit jeher ein außergewöhnlich frommes Land. Pro Kopf stehen in den Vereinigten Staaten mehr Kirchen, Synagogen, Tempel und Moscheen als irgendwo sonst auf der Erde: Ein Gotteshaus kommt auf 865 Menschen.Im Unterschied zu Europa“, schreibt der Spiegel, „will Amerika offenbar beweisen, dass Modernität nicht Gottlosigkeit nach sich zieht. Jeder zweite Amerikaner gibt an, wöchentlich mindestens einmal zur Kirche zu gehen, in Westeuropa besuchen allenfalls 20 Prozent regelmäßig Gottesdienste, in Osteuropa gar nur 14 Prozent. In den USA ruft solcher Atheismus nur Kopfschütteln hervor - und bestärkt das Bewusstsein, in Wahrheit ‚Gottes Heimat’ zu sein.“(6)

Zulauf haben in dieser Situation vor allem jene konservativ-patriotischen Gemeinden, die Amerikas „Auserwähltheit“ besonders betonen. Während sich die Kirchenbänke der Katholiken, Lutheraner, Presbyterianer und Methodisten leeren, gewinnen die freikirchlichen Fernsehprediger, die Pfingstgläubigen, Charismatiker und Mormonen mehr und mehr an Einfluss. Sie wollen ein „anständiges, moralisch gesundes Amerika“ gemäß den Vorstellungen der American Family Association (AFA), die früher unter dem aufschlussreichen Label Nationales Bündnis für Anstand (National Federation for Decency) firmierte. Diese Speerspitze der religiösen Rechten in den USA zieht seit mehr als 20 Jahren gegen alles zu Felde, was den tradierten Vorstellungen von Anstand und Moral zuwider läuft: das viel zu liberale Fernsehprogramm, die Trennung von Staat und Kirche, die rechtliche Gleichstellung der Homosexuellen, Atheismus und Liberalismus, vorehelicher Sex, Abtreibung, Glücksspiel, Drogen oder ungefilterter Zugang zum Internet in Bibliotheken. Wer sich nicht fügt - etwa Sponsoren von Fernsehshows mit „unchristlichen“ Inhalten - wird kurzerhand mit einem Boykottaufruf überzogen, der über die 200 Rundfunkstationen der AFA wirksam verbreitet wird.

Dass die AFA und ihre religiösen Verbündeten in den letzten Jahren vermehrt an Bedeutung gewonnen haben, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass viele Menschen Probleme haben, sich in den unübersichtlichen, sozial wie ökonomisch unsicher erscheinenden postmodern-kapitalistischen Verhältnissen zurechtzufinden. Unter solchen Bedingungen entfalten die einfach strukturierten Weltbilder religiöser Fundamentalisten eine ungeheure Attraktivität, denn sie bieten den postmodern verunsicherten Menschen, wonach sie – neben (den oftmals verwehrten) materiellen Gütern – am meisten suchen: Inseln der Geborgenheit in einem Meer der Unübersichtlichkeit. (7) Um die Welt (und gegebenenfalls auch das eigene Elend) im religiösen Sinne zu begreifen, muss man nicht die unterschiedlichen Interessen, Ressourcen und Wechselwirkungen im Rahmen einer multikausalen Systemanalyse berücksichtigen, es reicht aus den (vermeintlich) fundamentalen Unterschied zwischen Gut und Böse zu erkennen und diese „Erkenntnis“ zum Dreh- und Angelpunkt des eigenen Handelns zu machen.

 

Im Kampf gegen „das Böse“

Kein amerikanischer Präsident, so religiös er auch war oder sich nach außen gab, hat das „Böse“ in seinen Reden derart häufig strapaziert wie Georg W. Bush. Wie sein „Lieblingsphilosoph“ Jesus Christus, der dem Matthäusevangelium zufolge ankündigte, am Ende aller Tage seine Engel auszusenden, um die Bösen „in den Ofen [zu] werfen, in dem das Feuer brennt“ (Mt 13,41), sendet Bush heute seine Truppen aus, um die „Achse des Bösen“ vom Erdball zu verbannen. Bushs Lieblings-Kampfbegriff steht sicherlich nicht zufällig in der Tradition Ronald Reagans, der einst die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ bezeichnete. So wie Reagan erfolgreich gegen das Sowjetreich agierte, sieht Bush junior offenbar seine heilige Aufgabe darin, all den anderen „bösen Buben“ den Garaus zu machen, damit sie der globalen Heilsmission von „God’s own Country“ nicht länger im Weg stehen.

Dass das „achsenbildende Böse“ beispielsweise in Afghanistan, Irak und Nordkorea höchst unterschiedliche Formen angenommen hat und die fiesen „Chefagenten des Bösen“ (vor allem Saddam Hussein und Osama bin Ladin) untereinander spinnefeind sind, scheint Bush nicht weiter zu irritieren. Wer Kreuzzüge gegen das Böse führt, wird sich von Nebensächlichkeiten wie der fehlenden Mitwirkung des Irak an den Anschlägen des „11. Septembers“ kaum aufhalten lassen, zumal Bush – wie Norman Mailer vor kurzem lästerte – die ganze Angelegenheit offensichtlich „philosophisch“ sieht: „Der 11. September war böse, Saddam ist böse, alles Böse hängt irgendwie zusammen. Also: der Irak.“(8)

Wer so klare Vorstellungen vom Guten und Bösen besitzt wie der amtierende amerikanische Präsident, musste sich auch nicht davon verunsichern lassen, dass einige christliche Kirchen scharf gegen den völkerrechtswidrigen Präventivkrieg gegen den Irak protestierten. Vermutlich sah Bush die Sache sogar ähnlich wie seine radikalen evangelikalen Glaubensbrüder, die den Protest des Vatikans nur als weiteren Beleg für die Richtigkeit des „amerikanischen Kreuzzuges gegen das Böse“ deuteten. Denn das Papsttum gilt den amerikanischen Fundamentalisten seit jeher als die verachtungswürdige „Hure Babylons“, wird doch in Vers 17,9 der Johannesoffenbarung verkündet, dass diese Endzeit-Hure auf „sieben Bergen“ thront, genauso wie Rom, das auf sieben Hügeln liegt. Nebenbei erklärt dies auch die störrische Haltung des „alten Europas“: Dass die EU nämlich ihre Existenz den Römischen Verträgen verdankt, macht in der evangelikalen Lesart des Neuen Testamentes ganz Europa zu einem Werkzeug des Teufels, weshalb es kein Wunder ist, dass sich die verkommenen Europäer so schlecht mit der gottgewollten Alleinherrschaft Amerikas abfinden können.

Man könnte über derartige religiöse Wahnideen schmunzeln, hätten sie nicht so großen Einfluss auf die amerikanische Politik. Zwar sind einige maßgebliche Politiker der USA (beispielsweise Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz) weit weniger fromm als ihr christlich wiedergeborener Präsident, sie verstehen es allerdings hervorragend, die religiös-patriotische Stimmung für ihre eigenen politischen Konzepte auszunutzen. Sie wissen: Dort, wo „das Böse“ droht, wächst auch der Wunsch nach einer „starken Hand“, die die aus den Fugen geratenen Verhältnisse zum „Guten“ hin ordnet. Insofern scheinen die auf den ersten Blick kontraproduktiven Maßnahmen der amerikanischen Administration bei genauerer Betrachtung strategisch durchaus plausibel zu sein. Mit jeder militärischen Intervention in einer Krisenregion, mit jeder weiteren Provokation der ohnehin gedemütigten Moslems, steigt die Bedrohung durch das Böse, was wiederum zur Stabilisierung des inner- wie außerpolitischen Repressionsapparates beiträgt. So hat „das Böse“ für die politisch Verantwortlichen Amerikas durchaus sein Gutes. Ja, man kann sagen: Wenn es ihn nicht schon gegeben hätte, hätte die politische Administration Amerikas den „11. September“ eigentlich erfinden müssen.(9)

 

Allgemeine Folgerungen

Aus den komplexen, hier nur skizzenhaft angedeuteten Entwicklungen in den USA lassen sich drei allgemeine Folgerungen ableiten, die nicht nur für die Beurteilung der Entwicklung der USA von Bedeutung sind, sondern auch für eine Einschätzung der Veränderungspotentiale in anderen Weltregionen:

1. Der Prozess der Säkularisierung muss – dies zeigen die jüngsten Entwicklungen in Amerika, aber auch in den moslemischen Staaten – nicht notwendigerweise linear verlaufen. Im Gefolge der Aufklärung sind die Säkularisten von einem steten Prozess des Fortschritts ausgegangen. Religion, so dachte man, werde als Relikt der Vergangenheit im Verlauf der gesellschaftlichen Rationalisierungsschübe ihre Herrschaftsfunktion verlieren und in absehbarer Zeit absterben. Die Realität sieht aber anders aus: In Wirklichkeit scheinen die Religionen durchaus in der Lage zu sein, sich den sozioökonomischen Entwicklungen anzupassen und ein dem jeweiligen gesellschaftlichen Sein entsprechendes „Design des Heiligen“ zu entwickeln. Folge: Der Prozess der Säkularisierung wird von einem Prozess der Re-Sakralisierung begleitet. Welcher dieser beiden Prozesse die Oberhand gewinnt, ist noch nicht ausgemacht.

2. Religion ist kein bloßer „Nebenwiderspruch“ im sozioökonomischen System, wie orthodoxe Linke (und seltsamerweise auch einige Neoliberale) glauben. Sie kann selbst unter den Bedingungen der Postmoderne (siehe Amerika) zu einem vitalen Wirkfaktor im gesellschaftlichen Kräftespiel werden. Wer nur die politischen und ökonomischen Verhältnisse studiert und dabei den (zwar mit Politik und Ökonomie verwobenen, aber durchaus eigenständigen) Faktor „Religion“ ausklammert, kommt notwendigerweise zu falschen Prognosen. Er/Sie übersieht, dass die Menschheit nicht nur vom zweckrationalen Kampf um Ressourcen bzw. die Organisation von Produktion und Konsumtion bestimmt wird, sondern häufig genug auch von bloß virtuellen, eingebildeten Interessen, die auf religiösem Gebiet angesiedelt sind und häufig jede Spur von irdischer Zweckrationalität vermissen lassen. (So werden die durch den amerikanischen Kreuzzug „befreiten“ Iraker wohl demnächst (kurzzeitig) die Segnungen der Demokratie benutzen, um sich endlich in Freiheit geißeln zu können.)

3. Die Trennung von Staat und Kirche ist zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für eine offene Gesellschaft. Wie wir gesehen haben, konnte die in der amerikanischen Verfassung verankerte Trennung von Staat und Kirche den fundamentalistischen Trend der letzten Jahre nicht verhindern. In gewisser Weise förderte sie diesen Trend sogar, da aus Rücksicht auf die geforderte Weltanschauungsneutralität die notwendige gesellschaftliche Auseinandersetzung über Fragen der Religion und Weltanschauung auf ein Mindestmaß zurückgeschraubt wurde. (So verbannten einige amerikanische Schulen die Evolutionstheorie lieber aus dem Lehrplan, als dass sie die religiösen Gefühle christlicher Fundamentalisten verletzten.) Aus all dem ist zu folgern, dass nicht nur die Frage der Trennung von Staat und Kirche, sondern auch die gesellschaftliche Auseinandersetzung über Religion- und Weltanschauungsfragen offensiv angegangen werden muss, wobei ein deutliches Bekenntnis zur Aufklärung nicht fehlen darf. Mit lässiger Abgeklärtheit wird man der auch in Europa wachsenden Schar der Antiaufklärer nicht beikommen können. (Dass die (Tauf-)Schein-Christen hierzulande die Großkirchen verlassen, mag erfreulich sein, dieser Trend sollte uns jedoch nicht übersehen lassen, dass parallel dazu auch die Schar der fundamentalistisch Gläubigen wächst…)

 

Die „Vereinigten Gottesstaaten von Amerika“?

Kehren wir nach diesem kurzen Exkurs noch einmal zu den gegenwärtigen Entwicklungen in Nordamerika zurück: Müssen wir wirklich davon ausgehen, dass sich die USA mittel- oder langfristig in einen christlich-patriotischen Gottesstaat verwandeln könnte, wie die einleitenden Worte suggerierten? Glücklicherweise ist es noch nicht soweit. Die Vereinigten Staaten sind ein großes Land mit starken kulturellen Gegensätzen, das zweifellos über enorme Widerstandspotentiale verfügt, die den gegenwärtigen Trend zum religiös überformten Hyperpatriotismus auch wieder aufheben könnten.(10) Grundbedingung für einen erfolgreichen Gegentrend wäre allerdings, dass sich Amerikas Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler weit deutlicher als bisher zu einer säkularen, offenen Gesellschaft bekennen. Bislang sind offen religions- und gesellschaftskritische Wissenschaftler wie Noam Chomsky, Richard Rorty oder Richard Dawkins im amerikanischen Wissenschaftsestablishment eher die Ausnahme als die Regel.

Wenn sich diese vornehme Zurückhaltung der kritischen Intelligenz nicht ändert und es auch auf andere Weise nicht gelingt, Bush & Co. rechtzeitig in ihre Schranken zu verweisen, wird sich die weltpolitische Lage weiter zuspitzen. Im schlimmsten Fall könnten am Ende sogar jene 72,5 Prozent unter den „wiedergeborenen“ amerikanischen Christen Recht behalten, die in den Wirren unserer Zeit „die Anfänge jenes Krieges sehen, der […] zu Armageddon führt.“(11) Allerdings: Selbst wenn ihre (in gewisser Weise „selbsterfüllende“) Prophezeiung eintrifft, in einem Punkt werden sich die Fundamentalisten auf jeden Fall irren: Wenn es tatsächlich zu einer globalen Eskalation der Gewalt kommen sollte, so wird dieser totale Krieg, den die Fundamentalisten halb erhoffen, halb befürchten, nicht zwischen den „Guten“ und „Bösen“ ausgefochten werden, sondern vielmehr zwischen allzu gutgläubigen Menschen auf beiden Seiten. Menschen, die im Kern nichts weiter unterscheidet, als die triviale Tatsache, dass sie zufällig in den Wirkkreis unterschiedlicher, miteinander rivalisierender ideologischer und politisch-ökonomischer Systeme geboren wurden.

In diesem worst-case-Szenario, das zwar nicht unbedingt wahrscheinlich, doch auch nicht völlig unmöglich ist, werden die säkularisationserprobten Bewohner des „alten Europa“ sich womöglich zurücksehnen in die „gute alte Zeit“ des „Kalten Krieges“, eine Zeit, in der das „Böse“ aus US-amerikanischer Sicht vielleicht ein eigenes Reich besaß (Sowjetblock),  aber noch keine hinterlistigen „internationalen Achsen“ bildete. Eine Zeit auch, in der Amerika innerhalb der „Neuen Linken“ durchaus positiv besetzt war, hatte das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ die verklemmten Westeuropäer doch mit Jazz und Rock, hipper Mode und freiem Lebensstil überrascht. Zugegeben: Der frische Wind der amerikanischen Popkultur, der die verkrustete Kultur des alten Europas nachhaltig befruchtet(e), war und ist nur eine Seite des amerikanischen Traums (12), allerdings eine Seite, die der sinnfreudige Säkularist in Zeiten eines mitunter bedrohlich ausufernden Antiamerikanismus nicht vergessen sollte.

Es scheint, dass man manchem kritischem Zeitgenossen heute in Erinnerung rufen muss, dass Amerika nicht nur Bush, Cheney, Rumsfeld und Wolfowitz hervorgebracht hat, sondern beispielsweise auch Jimi Hendrix, Janis Joplin und Frank Zappa. Letzterer, der für den „Big Boss über den Wolken“ nur Verachtung übrig hatte und mit der von ihm gegründeten „Church of American Secular Humanism“ (kurz: CASH!) bissig-ironisch gegen die Privilegien der Kirchen in Amerika protestierte, hatte sich vor Ausbruch seiner schweren Krankheit Ende der 1980er Jahre als unabhängiger Präsidentschaftskandidat beworben und zumindest in Kalifornien erstaunlich hohe Umfrageergebnisse erzielt. Wer weiß, vielleicht nutzt Michael Moore den enormen Erfolg seines oskargekrönten Filmes „Bowling for Columbine“ und seines Bestsellerbuches „Stupid White Men“, um in Zappas Fußstapfen zu treten? Wenn sich die kritische Intelligenz der USA endlich aufraffen sollte, entschieden gegen die Propagandafeldzüge der Fahnenkonservativen vorzugehen, müssten wir uns um die Zukunft Amerikas (und damit auch der Welt) weniger Sorgen machen. Was heute nottut, ist jedenfalls nicht die von den christlichen Bushisten propagierte „Befreiung von dem Bösen“, sondern vielmehr die Befreiung von den politischen Profiteuren des (bloß imaginierten) Bösen – gleich ob diese nun in Afghanistan, Teheran,  Rom, Jerusalem oder Washington D.C. sitzen. Selbstverständlich würde dies allein das Problem der ungerechten Verteilung von Reichtum in der Welt nicht lösen, es würde jedoch helfen, die realen Konfliktlinien zu erkennen, die im gegenwärtigen Diskurs hoffnungslos von religiösen Metaphern überlagert werden.

 

 

Anmerkungen


[1] vgl. Richard Rorty: Demütigung oder Solidarität Für Amerika wäre es eine Tragödie, wenn Europa sich nicht gegen Washington behaupten würde. In: Süddeutsche Zeitung vom 31.5.2003.

[2] Spiegel online, 29.11.02

[3] Meldung der Tagesschau vom 28.3.03

[4] vgl. Karlsruher Nachrichten vom 1.3.03

[5] Karlheinz Deschner meint in der Neuauflage seines Amerika-Buches Der Moloch. Eine kritische Geschichte der USA. (München 2002) sogar: „… seit dem ‚11. September’ ist nicht, wie seinerzeit Schwachköpfe und Situationisten rund um den Erdkreis papageiten, ‚alles anders’. Es ist genauso. Es ist kein Jota anders. Es ist wie immer.“ Zweifellos hat Deschner Recht, wenn er schreibt, dass die „neue Weltordnung“ immer noch die alte ist. Dennoch darf man nicht übersehen, wie notwendig die Ereignisse des 11. Septembers 2001 für die „Falken“ in der amerikanischen Regierung waren, um den schon lange geplanten „Transformationsprozess“ in Bewegung zu setzen (siehe unten),

[6] Krieg aus Nächstenliebe. In: Spiegel 8/2003, S.95

[7] vgl. hierzu meine Darstellung in Erkenntnis aus Engagement. Grundlegungen zu einer Theorie der Neomoderne. Aschaffenburg 1999.

[8] Norman Mailer: Heiliger Krieg: Amerikas Kreuzzug. Reinbek 2003.

[9] Die Hardliner in der amerikanischen Politik haben lange auf ein Ereignis wie den 11. September gewartet, um ihre längst in den Schubladen befindlichen Politstrategien umsetzen zu können. So heißt es in einem im September 2000 (!) veröffentlichten Report des ultrakonservativen Think-Tanks PNAC (Project for a New American Century): „…further the process of transformation … is likely to be a long one, absent some catastrophic and catalyzing event like a new Pearl Harbor“. (PNAC-Report: Rebuilding America’s Defenses. Strategy, Forces and Resources for a New Century. Washington. 2000) Ein Jahr später war es dann endlich soweit: Das „neue Pearl Harbor“ fand mitten in New York statt. Der Transformationsprozess, von dem die PNAC-Unterstützer Cheney, Rumsfeld und Wolfowitz schon lange zuvor geträumt hatten, konnte kraft der katalytischen Wirkung des 11. Septembers Wirklichkeit werden. (Dank an Uwe Schmidt, der mich auf diesen aufschlussreichen Satz aus dem PNAC-Report aufmerksam machte…)

[10] vgl. hierzu auch das durchaus optimistisch wirkende Gespräch mit den AAI-Aktivistinnen Bobby Kirkhart und Mynga Futrell in der vorliegenden MIZ. Vor allem Futrell scheint die Lage in Amerika weit weniger problematisch einzuschätzen als europäische Beobachter. Allerdings wurde das Interview noch vor den in besonderem Maße religiös-patriotischen Zeiten des jüngsten Irak-Krieges geführt.

[11] vgl. Spiegel 8/2003, S.99

[12] Zu der anderen, der alptraumartigen Seite des American Way of Life finden sich viele Belege in der bewusst einseitigen, kritischen Geschichte der USA von Karlheinz Deschner (s.o.).

home.gif (20220 Byte)