M.S. Salomon
Jenseits von Schuld und Sühne
Die neue Leichtigkeit des Seins
Status: In Arbeit...
„An Freiheit des Menschen im philosophischen Sinne glaube ich keineswegs. Albert Einstein
Einleitung Dieses Buch handelt von einer tief greifenden Umwälzung des Denkens, einer Revolution, die unsere Welt in dramatischem Ausmaß verändern könnte. Ausgelöst wird diese Revolution nicht durch Volksaufstände und Guerillatrupps, nicht durch Gewehre, Granaten und Kanonen, sondern durch die im ersten Moment vergleichsweise harmlos erscheinenden Ergebnisse der modernen Biologie, Neurophysiologie, Psychologie und Philosophie. Die Mosaiksteinchen der Erkenntnis, die von der wissenschaftlichen Forschung in den letzten Jahrhunderten zusammengetragen worden sind, fügen sich heute mehr und mehr zu einem neuen, stimmigen Bild zusammen, ein Bild, das – wenn man es genauer betrachtet – weniger als je zuvor mit tradierten Menschen- und Weltbildern in Einklang zu bringen ist. Nachdem die Menschheit vor 400 Jahren aufgrund der Forschungen von Nikolaus Kopernikus, Giordano Bruno, Johannes Kepler und Galileo Galilei anerkennen musste, dass ihr Heimatplanet Erde keineswegs der Mittelpunkt des Universums ist, nachdem Charles Darwin vor rund 150 Jahren belegte, dass Homo sapiens kein sorgfältig geplantes Spitzenprodukt aus der Werkstatt des biblischen Gottes ist, sondern ein bloß zufälliges Ergebnis der natürlichen Evolution, stehen wir heute vor der wohl radikalsten Entzauberung unserer selbstverliebten Illusionen. Der Auslöser für diese Entzauberung ist leicht auszumachen: Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren zum Sturm auf die „Bastille des illusionären Denkens“ angesetzt, das menschliche Gehirn. Obgleich das Terrain von der Forschung noch längst nicht vollständig erobert wurde, musste das illusionäre Denken doch bereits in den ersten Gefechten den Verlust ihres wohl wichtigsten Geschützes beklagen: Unter die Guillotine der wissenschaftlichen Kritik geriet (auch wenn so mancher das bis heute nicht wahrhaben will!) nichts Geringeres als die „Idee der Willensfreiheit“ – und damit eine in ihrer Bedeutung kaum zu unterschätzende Stütze der abendländischen Kultur. Aktuelle Forschungsergebnisse bestätigen, was einige Gelehrte schon vor Jahrhunderten ahnten: Auch die Mitglieder der stolzen Spezies Homo sapiens, sind nicht im Entferntesten in der Lage, Naturgesetze zu überschreiten. Wie jedes andere Lebewesen besitzen auch wir keinen „freien Willen“, der losgelöst von natürlichen Kausalzusammenhängen existieren könnte. Wir irren sogar, wenn wir davon ausgehen, dass unser bewusstes Wollen unserem Tun vorausgeht. So seltsam es auch klingt: Die Forschung hat gezeigt, dass wir in Wirklichkeit nur dann etwas bewusst „wollen“, wenn wir es auf der Basis unbewusster Prozesse ohnehin schon zu tun im Begriff sind. Die sog. „Willensfreiheit“, durch die wir uns von der Natur abzukoppeln und als „Krönung der Schöpfung“ auszuweisen pflegen, von der wir im Alltag als einer reinen Selbstverständlichkeit ausgehen, über die wir uns selbst und andere definieren, die die Grundlage unserer Moralvorstellungen und unseres Rechtssystems bildet, - diese „königliche“ und vermeintlich „menschlichste aller menschlichen Eigenschaften“ hat sich in der Forschung als bloße Chimäre erwiesen, als ein Artefakt des von unbewussten Verhaltensroutinen geprägten Gehirns. Es wird eine der Aufgaben dieses Buches sein, die Geschichte dieser abenteuerlichen Entzauberung zu erzählen. Das Hauptanliegen dieses Buches ist jedoch ambitionierter: Es soll gezeigt werden, dass der Abschied von der Willensfreiheitsidee nicht nur auf Grund der Fakten geboten ist, sondern dass dieser Abschied, wenn er denn konsequent und unter Beachtung gewisser Regeln vollzogen würde, auch in unserer Lebenspraxis mit sehr weitreichenden positiven Konsequenzen verbunden wäre. In diesem Punkt unterscheidet sich der Denkansatz, der im vorliegenden Buch verfolgt wird, von den Überlegungen der meisten heutigen Wissenschaftler und Philosophen. Im Moment scheint es so zu sein, als hätten sich die Gelehrten im Falle der Willensfreiheit auf die Akzeptanz eines „produktiven Irrtums“ geeinigt: Zwar könne man die Idee des freien Willens empirisch nicht mehr aufrechterhalten, heißt es in einschlägigen Veröffentlichungen, aber in der Lebenspraxis müsse man doch an dieser Idee festhalten, weil die Annahme der Willensfreiheit für das Gemeinwohl so ungemein nützlich sei. Diese Haltung ist einigermaßen erstaunlich. Es kommt, wie man sich leicht vorstellen kann, höchst selten vor, dass gestandene Wissenschaftler behaupten, man solle praktisch an etwas glauben, was theoretisch eigentlich längst widerlegt ist. Aus welchen Gründen sollten wir uns ausgerechnet bezogen auf die Frage, ob unser Wille „frei“ oder natürlich verursacht ist – zweifellos eine der ganz zentralen Fragen unserer Existenz! – einem „produktiven Irrtum“ unterwerfen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns zunächst vergegenwärtigen, was der Begriff „produktiver Irrtum“ meint. Das Phänomen des „produktiven Irrtums“ ist uns u.a. aus der Motivationsforschung bekannt: Manche Sportler bringen besondere Leistungen, wenn sie ihren „Talisman“ in der Nähe wissen und versagen, wenn dieser verschwunden ist. Fußballtrainer tragen mitunter wochenlang das gleiche Hemd, das sie zufällig am Tag eines großen Sieges aus dem Schrank gezogen hatten. Und obwohl es selbstverständlich keinen direkten kausalen Zusammenhang zwischen der abergläubisch-monotonen Kleiderwahl eines Trainers und dem Torerfolg seines Mittelstürmers gibt, kann ein „Erfolgshemd“ durchaus das Selbstvertrauen und das Engagement einer Mannschaft fördern. Sollten wir den „freien Willen“ demnach als „Talisman des modernen Menschen“ begreifen? Stachelt uns der Glaube an die Idee der Willensfreiheit, so haltlos er im empirischen Sinne auch sein mag, in der Lebenspraxis zu besonderen Leistungen an? Macht uns dieser Glaube zu besseren, glücklicheren Menschen? Nutzt er tatsächlich so sehr dem Gemeinwohl, wie dies in der Diskussion immer wieder behauptet wird? Ich bin davon überzeugt, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Idee der Willensfreiheit behindert, wie wir noch sehen werden, das Projekt einer humanen Entwicklung weit eher, als dass sie es fördert. Sie ist verantwortlich dafür, dass wir ethische Konflikte nicht rational lösen, sondern in moralischem Sud aufkochen. Sie bildet die Grundlage von moralischer Angst, von Schuld- Sühne-, Rachegefühlen. Sie macht uns krank, unnachsichtig, kritikunfähig, dumm. Und nicht zuletzt verringert sie durch die Zuschreibung moralischer Verantwortlichkeit die Sensibilität für unsere objektive Verantwortung. Positiv formuliert: Man könnte die Grundaussage des vorliegenden Buches folgendermaßen fassen: Je konsequenter wir uns von der Idee der Willensfreiheit verabschieden, desto eher werden wir in der Lage sein, unser Leben unbeschwert als „Gleiche unter Gleichen“ zu genießen. Die Aufhebung der menschlichen Hybris, als einziges Wesen in der Natur qua „freiem Willen“ über den Naturgesetzen zu stehen, könnte dazu beitragen, die Entfremdung von unserer natürlichen Umwelt, von unseren Mitmenschen und auch von uns selbst zu überwinden. Darüber hinaus wird die Aufhebung der Fixierung auf eine bloß eingebildete Freiheit (Willensfreiheit) die Erschließung realer Freiheiten (Handlungsfreiheiten) vorantreiben. Und last but not least: Als Preis für die Eliminierung der mit der Willensfreiheitsidee verbundenen, psychisch wie politisch hochtoxischen Dialektik von „Gut“ und „Böse“ bzw. „Schuld“ und „Sühne“ winkt uns eine neue, eine wunderbar erträgliche „Leichtigkeit des Seins“, eine Lebensauffassung, die – wie Albert Einstein formulierte – „"in wohltuender Weise das leicht lähmend wirkende Verantwortungsgefühl [mildert]“, die bewirkt, „dass wir uns selbst und die andern nicht gar zu ernst nehmen“ und die insbesondere auch „dem Humor sein Recht lässt“. Die Suspendierung des freien Willens – ein „Allheilmittel für die seelischen Nöte des modernen Menschen“? In der Tat bin ich der Meinung, dass von einer Aufkündigung der Willensfreiheitshypothese ungeheuer starke therapeutische Impulse sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft ausgehen würden. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass bei falscher Anwendung dieser hochwirksamen Rezeptur höchst unerfreuliche Nebenwirkungen auftreten könnten. Insbesondere in Kombination mit bestimmten religiösen Heilserzählungen (beispielsweise dem orthodoxen hinduistischen Karmaglauben) sind Symptome wie Fatalismus, Gleichgültigkeit, Lethargie usw. nicht auszuschließen. Dies ist wahrscheinlich der Grund dafür, warum so viele Forscher auf dem „produktiven Irrtum des freien Willens“ beharren. Sie meinen, dass das aufklärerische Projekt einer möglichst weitreichenden theoretischen wie praktischen Emanzipation der Individuen moralischer Subjekte bedarf, die sich der Illusion unterwerfen, in ihren Willensakten „frei“ zu sein. Mit einer solchen Haltung wird jedoch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Wer ernsthaft über die weitreichenden Konsequenzen nachdenkt, die mit einer Suspendierung der Willensfreiheitsidee verbunden sind, der muss genauer hinschauen, muss lernen, Unterschiede zu erkennen, wo bislang noch gar keine Unterschiede gesehen wurden. Hierzu drei Beispiele, die zu einem späteren Zeitpunkt näher erläutert werden sollen: 1. Es ist wichtig (wenn auch unüblich) zwischen moralischer und ethischer Argumentation zu unterscheiden. Zwar stimmt es, dass die Willensfreiheitsidee die Voraussetzung für moralische Bewertungen darstellt, das heißt aber keineswegs, dass nach Suspendierung des Willensfreiheitsprinzips nicht doch ethische Entscheidungen begründet getroffen werden können. Wir werden sogar sehen, dass das Prinzip der Ethik durch die Aufkündigung des Moralprinzips enorm an Bedeutung gewinnt. 2. Ebenso entscheidend ist es, dass zwischen der subjektiven moralischen Verantwortung des Täters und der möglicherweise evidenten objektiven Unverantwortbarkeit seiner Tat differenziert wird. Auch wenn es nach der Aufhebung des Willensfreiheitstheorems keine Schuldfähigkeit im moralischen Sinne mehr gibt, so heißt das nicht, dass eine von der Willensfreiheitsidee befreite Gesellschaft unerwünschte Handlungen nicht mit empfindlichen Kosten (beispielsweise Freiheitsentzug) belegen kann oder sollte. 3. Weiterhin muss die reale, sinnlich erfahrbare Freiheit, nämlich die Handlungsfreiheit, das tun zu können, was man will, scharf getrennt werden von der illusionären, übersinnlich konstruierten Freiheit, die angeblich darin besteht, einen Willen jenseits des Kausalprinzips zu besitzen (Willensfreiheit). Zwar gibt es Menschen, die deutlich spüren, dass sie nicht wollen können, was sie wollen (beispielsweise in Folge einer Zwangsstörung, einer Phobie oder einer Suchterkrankung), diese Menschen leiden allerdings nicht unter einer reduzierten Willensfreiheit (die auch bei psychisch gesunden Menschen eine bloße Fiktion ist!), sondern unter einer Störung ihrer inneren Handlungsfreiheit, die sich darin äußert, dass sie nicht die Willens- und Handlungsakte ausführen können, die sie eigentlich ausführen möchten. Wirft man, was leider allzu häufig passiert, die höchst unterschiedlichen Kategorien „innere Handlungsfreiheit“ und „Willensfreiheit“ in einen Topf, so führt dies notwendigerweise zu schwerwiegenden Fehlschlüssen. Reichen die hier angedeuteten neuen Differenzierungen aus, um eine fehlerhafte Anwendung der Rezeptur des „Farewell to Free Will“ zu verhindern? Zweifellos nicht! Der Kritiker der Willensfreiheit ist nicht nur dazu verpflichtet, neue Unterscheidungen auf philosophischem und psychologischem Gebiet einzuführen, er muss sich auch auf religions- und ideologiekritischem Terrain engagieren, um eine problematische Fremdverwertung seiner Erkenntnisse so gut wie möglich zu begrenzen. Zudem wird er – wie die Erfahrung gezeigt hat – in seinen Formulierungen peinlich genau darauf achten müssen, dass er zur Veranschaulichung seiner Position keine missverständlichen Sprachbilder verwendet. Dies ist vielleicht die einzige fundamentale Kritik, die man gegenüber dem Werk des großen, aufgrund seiner Weitsicht und Originalität bis heute verdrängten, vergessenen, verfemten, französischen Philosophen Julien Offray de La Mettrie äußern kann. Mettrie hatte zur Veranschaulichung seiner sinnfreudigen, diesseitig-materialistischen Anthropologie das Bild vom Menschen als einer „Maschine“ benutzt. Mithilfe der Maschinen-Metapher konnte sich La Mettrie zwar deutlich von den Überlegungen des Rene Descartes abgrenzen und den noch viele Jahrhunderte nach seinem Tod tonangebenden, erst heute empirisch widerlegten Dualismus von Körper und Geist verwerfen. Doch diese Metapher enthielt einen grundlegenden Fehler, der fatale Folgen für die Akzeptanz der Kritik der Willensfreiheitsidee haben sollte. So trivial es auch klingt: Menschen sind keine Maschinen, sondern Lebewesen. Diese Feststellung ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil Lebewesen von einem Prinzip geprägt sind, das „bloßen Maschinen“ völlig fremd ist: dem Prinzip Eigennutz. Im Gegensatz zu „toten, seelenlosen Automaten“ besitzen lebende Systeme „Interessen“, sie suchen angenehme Reize auf und vermeiden unangenehme. Zwar ließe sich auch ein Roboter so programmieren, dass er „autonom“ bestimmte Reize meidet, die seinem System schaden könnten, aber diese Strategie hätte für ihn selbst keinerlei „Bedeutung“, da nichts für ihn von „Bedeutung“ sein kann, solange er nicht selber von echten (und nicht bloß simulierten!) eigennützigen Interessen (Bedürfnisse, Gefühle etc.) gesteuert wird. Obgleich La Mettrie sich große Mühe gab, die enorme Bedeutung von körperlichen Prozessen und subjektiven Empfindungen in seiner Philosophie herauszustellen, so bestimmte doch die Maschinen-Metapher in folgenschwerer Weise die Aufnahme seiner Argumente, denn die Vorstellung, dass eine Ablehnung der Willensfreiheitsidee notwendigerweise mit der Auffassung verknüpft werden müsse, dass der Mensch nichts weiter sei als ein kompliziert programmierter Automat, war nicht nur falsch (und widersprach La Mettries Intentionen), sondern musste auf die meisten Menschen verständlicherweise höchst abstoßend wirken. Es wird eine der Aufgaben dieses Buches sein, diese fatale Verknüpfung aufzuheben. Wir werden sehen, dass der Abschied von der Willensfreiheitsidee den Menschen keineswegs zu einem „seelenlosen Roboter“ macht, der von einem „imaginären Schöpfer“ oder „der Natur“ dazu verdammt wurde, blind irgendwelchen statischen Programmierungsbefehlen zu folgen (dies würde in der Tat notwendigerweise zu einer fatalistischen Konzeption führen!). Vielmehr können wir den Menschen auch jenseits des Willensfreiheitsprinzips als ein planendes, aktives Wesen begreifen, das in jedem Moment seiner Existenz die eigene Welt neu erfindet, bewertet und verändert. „Autonomie“ ist unter der Voraussetzung der „Willensbedingtheit“ ebenso möglich wie „Kreativität“ unter den Bedingungen einer allumfassenden „Kausalität“. Zur Vorgehensweise
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