Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

Rezensionen

a) Rezensionen für die MIZ

Earl Doherty: Das Jesus-Puzzle. Basiert das Christentum auf einer Legende?
Hoerster, Norbert: Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay.
Konrad Riggenmann: Kruzifix und Holocaust. Über die erfolgreichste Gewaltdarstellung in der Weltgeschichte.
Drewermann, Eugen: Hat der Glaube Hoffnung? Von der Zukunft der Religion am Beginn des 21. Jahrhunderts.
Rupert Sheldrake/Matthew Fox: Engel. Die kosmische Intelligenz.
Leo Booth: Wenn Gott zur Droge wird. Missbrauch und Abhängigkeit in der Religion. Schritte zur Befreiung.
Augstein, Rudolf: Jesus Menschensohn. Erweiterte und aktualisierte Neuauflage.

Heribert Blondiau/Udo Gümpel: Der Vatikan heiligt die Mittel. Mord am Bankier Gottes.

Hanns Cornelissen: Faktor Gott. Ernstfall oder Unfall des Denkens?
Rainer Schepper: Denn es steht geschrieben. Predigten eines Ungläubigen.
Fechtner/Friedrichs et al: Religion wahrnehmen. / Oliveira/Machado: Die Erscheinungen und die Botschaft von Fatima.
b) Rezensionen für Pro Zukunft
Goldner, Colin: Die Psycho-Szene. Aschaffenburg
Wuketits, Maria / Wuketits, Franz M.: Humanität zwischen Hoffnung und Illusion. Warum uns die Evolution einen Strich durch die Rechnung macht.

Blackmore, Susan: Die Macht der Meme. Die Evolution von Kultur und Geist.

Wuketits, Franz M.: Die Selbstzerstörung der Natur. Evolution und die Abgründe des Lebens.

Böhm, Birgit; Janßen, Michael; Legewie Heiner: Zusammenarbeit professionell gestalten.

c) Weitere Rezensionen:

der blaue reiter – Journal für Philosophie, Heft 16, Thema: Sex
Der große Betrug: Bücher von Gerd Lüdemann (incl. Interview mit dem Autor)

Jesus und die Frauen: Bücher von Hubertus Mynarek (incl. InterviewI

 


Earl Doherty: Das Jesus-Puzzle. Basiert das Christentum auf einer Legende? Neustadt: Angelika Lenz Verlag 2003. 481 Seiten, broschiert, Euro 25,90, ISBN: 3-933037-26-3.

Die Literatur über Jesus von Nazareth, den vorgeblichen Heiland, der nach einer weit verbreiteten Legende vor rund zweitausend Jahren nicht nur beachtliche Wunder gewirkt, sondern die gesamte Menschheit erlöst haben soll, ist so groß und vielfältig, dass man eigentlich nichts Neues mehr erwarten sollte. Die meisten Forscher, die sich mit Jesu Leben beschäftigen, haben sich damit abgefunden, dass man nichts Definitives über Jesus sagen könne, allenfalls, dass eine solche Gestalt, sofern es sie überhaupt gegeben hat, wohl im jüdischen Kontext dachte und handelte. Infolge dessen hat sich in der historisch-kritischen Literatur das Bild vom jüdischen Wanderprediger Jesus eingebürgert, der erst in Folge der späteren Mythologisierung (beginnend mit Paulus) seiner jüdischen Wurzeln entkleidet und zum Christus, dem „Erlöser aller Menschen“, stilisiert wurde.

Völlig falsch!, meint Earl Doherty, der mit seinem Buch „Das Jesus-Puzzle“ eine erfrischend neue Interpretation der Jesus-Figur vorgelegt hat. Das Evangelium der Christenheit beruht, so Doherty, auf der Verschmelzung zweier Traditionen, die ursprünglich gar nichts miteinander zu tun hatten: 1. einer „Galiläa-Tradition“, die eine neue Ethik sowie das Nahen des Reichs Gottes und des sog. „Menschensohns“ verkündigte, und 2. einer „Jerusalem-Tradition“, in deren Zentrum ein himmlischer Sohn Gottes stand (Jesus oder Yeshua, Christus oder Messias genannt), der in einer übernatürlichen Welt durch einen metaphysischen Opfertod und anschließender Auferstehung bereits zwischen Gott und der Welt vermittelt hatte (Erlösung) und dessen irdische Ankunft für die nahe Zukunft erwartet wurde.

Um diese These zu belegen, deckt Doherty mit der Akribie eines Sherlock Holmes die Gräben zwischen den neutestamentarischen Briefen und den Evangelien auf. Warum, fragt er, berichten die Briefe der Apostel nichts von den Wundern Jesu in Galiläa, nichts von seinen Lehren, seiner Biographie und Herkunft? Warum konzentrieren sie sich ausschließlich auf das Verhältnis des Gläubigen zum himmlischen Sohn, auf Erlösungstod und Auferstehung? Warum gibt es nirgendwo eine Erwähnung der historischen Umstände dieses spektakulären, gewaltsamen Todes? Ganz einfach, antwortet Doherty, weil Paulus & Co. als Apostel der Jerusalem-Tradition nichts von einer historischen Person wussten, die auf Geheiß des römischen Statthalters Pilatus hingerichtet wurde.

Der Messias des Paulus war keine irdische, sondern eine jenseitige Figur, sie hatte die Menschheit in einer gänzlich übernatürlichen Welt per Tod und Auferstehung erlöst. Paulus konnte demnach, anders als man es ihm heute häufig vorwirft, die Botschaft des historischen Jesus gar nicht verfälschen, weil er weder einen historischen Jesus noch die ihm später zugeschriebene Botschaft kannte. Die Weisheitslehre, die in den Evangelien mit der Gestalt des Jesus verknüpft wurde, entstammte nämlich der Galiläa-Tradition, zu der der Apostel keinen Zugang hatte.

Im Unterschied zur Jerusalem-Tradition wusste die Galiläa-Tradition tatsächlich von irdischen Propheten der Weisheit, ihren Lehren und Wundern (Dämonenaustreibungen etc.) zu berichten. Da sie in scharfem Kontrast zum damaligen religiös-politischen Establishment stand, kursierten hier auch Erzählungen von entsprechenden Konflikten. Allerdings kannte die Galiläa-Tradition keinen Jesus, der als Erlöser hingerichtet wurde und wenige Tage nach seinem Tod wieder zum Leben erweckt wurde. Wie es scheint, wurden die beiden autonomen Traditionen erst durch den Evangelisten Markus miteinander verknüpft. Er nahm die Weisheitslehre, die Berichte von Wundertaten und Obrigkeitskonflikten aus der Galiläa-Tradition und verband sie mit der aus der Jerusalem-Tradition stammenden Vorstellung eines Gottessohnes namens Jesus, der mittels Opfertod und Auferstehung die Gläubigen erlöst. Dass Markus mit diesem Kunstkniff die Grundlage einer Weltreligion – noch dazu einer über lange Zeiträume hinweg sich antisemitisch gebärdenden! – geschaffen hatte, konnte der Geschichtenerzähler selbstverständlich nicht erahnen.

Dohertys Analyse fördert nicht nur die beiden heterogenen Traditionen hervor, die sich in den Evangelien miteinander vereinigen, sondern auch die unterschiedlichen Schichten des Quellentextes Q, den Bibelforscher als Textgrundlage der synoptischen Evangelien hypothetisch annehmen. Spannend an dieser Auseinandersetzung ist u.a., dass Doherty die milden Weisheitstexte von Q1, die in einem schroffen Gegensatz zu den harten, apokalyptischen Drohungen („ewiges Feuer“) von Q2 stehen, auf den Einfluss der hellenischen Philosophen-Bewegung der Kyniker zurückführt, die während des 1. Jahrhunderts das Römische Reich durchwanderten, ihre auf Selbstgenügsamkeit beruhende Weisheitslehre predigten und dabei auch gegen soziale Ungerechtigkeit, Autoritätsgläubigkeit und Bigotterie zu Felde zogen. Eine pikante Deutung, denn sollte sie stimmen, so wären die sog. „christlichen Werte“, die gerne zur Verteidigung des Christentums in die Waagschale geworfen werden (sie stammten allesamt aus der Quelle Q1), weder auf Jesus noch auf irgendeine andere Gestalt der Bibel zurückzuführen, sondern auf die versprengten Anhänger des vielleicht sonderbarsten, heidnischen Philosophen der Antike, nämlich Diogenes von Sinope, der es als Ausdruck seiner Selbstgenügsamkeit und Verachtung gesellschaftlicher Konventionen mitunter vorzog, in einer Tonne zu wohnen.

Fazit: Trotz problematischer Faktenlage (Q ist eine zwar plausible, aber dennoch bloß hypothetische Konstruktion der Bibelforschung) ist es Doherty gelungen, eine Deutung zu entwickeln, die durch logische Stringenz überzeugt. Auch wenn schwer zu entscheiden ist, inwieweit seine Darstellung tatsächlich den historischen Fakten entspricht: „Das Jesus-Puzzle“ ist ein höchst faszinierendes Buch, dem man eine große Leserschaft wünscht.

Hoerster, Norbert: Ethik des Embryonenschutzes. Ein rechtsphilosophischer Essay. Stuttgart: Reclam 2002, 136 S., Euro 3,60.

Norbert Hoerster zählt sicherlich zu den umstrittensten Gelehrten Deutschlands. Seine Schriften zur Bioethik lösten derart heftige Kontroversen aus, dass der seit 1974 in Mainz lehrende Professor für Rechts- und Sozialphilosophie 1998 vorzeitig aus dem Universitätsdienst ausschied. Der jüngst bei Reclam veröffentlichte Essay zur Ethik des Embryonenschutzes zeigt, dass Hoerster sich von den massiven Angriffen auf seine Person nicht beeindrucken ließ. Klar und präzise trägt er seine Argumente vor und verteidigt die Position einer interessensorientierten Ethik auf überzeugende Weise gegen alternative religiöse oder metaphysische Konstrukte. Hoerster macht klar, warum mit dem Begriff der Menschenwürde in ethischen Diskussionen schwierig zu hantieren ist und welche problematischen Konsequenzen in Kauf genommen werden müssten, wenn das verfassungsmäßig garantierte „Menschenrecht auf Leben“ tatsächlich auch auf Embryonen angewendet würde. (In diesem Fall wäre jede Abtreibung Mord, was bedeuten würde, dass die betroffenen Frauen und Ärzte notwendigerweise hart bestraft werden müssten.)

Hoerster deckt in diesem Zusammenhang die verheerenden logischen Widersprüche der derzeitigen Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch auf und entwickelt im Gegenzug ein in sich schlüssiges rechtsphilosophisches Konzept, welches das „Menschenrecht auf Leben“ an das Vorhandensein eines echten, aktuellen „Überlebensinteresses“ koppelt. Dieses echte Überlebensinteresse, das der Autor vom bloßen Überlebensinstinkt bzw. dem punktuellen Lebensinteresse der Tiere ebenso trennt wie vom bloß potentiellen, noch nicht entwickelten Überlebensinteresse des menschlichen Embryos, ist nach dem Stand der Forschung auch bei Kleinstkindern noch nicht vorhanden, da ihnen das hierfür notwenige Ich-Bewusstsein fehlt. Etwaigen Überlegungen jedoch, wonach Kleinkindstötung ethisch legitim und demzufolge auch straffrei sein könnte, schiebt Hoerster einen Riegel vor, indem er zwischen der „Ebene des fundamentalen ethischen Kriteriums“ und der „Ebene der zielführenden Umsetzung dieses Kriteriums in die richtige Praxisform“ unterscheidet. Zwar entsprechen Kleinstkinder noch nicht dem fundamentalen ethischen Kriterium eines echten Überlebensinteresses, aus praktischen Erwägungen heraus ist es aber sinnvoll, ihnen dennoch ein prinzipielles, unabwägbares Lebensrecht einzuräumen, schließlich ist es äußerst schwierig abzuschätzen, ab welchem Zeitpunkt das jeweilige Kleinkind ein echtes Überlebensinteresse entwickelt. Wie bei der Volljährigkeit muss der Gesetzgeber hier eine Grenze definieren, ab der dem Individuum bestimmte Rechte zugesprochen werden (und zwar losgelöst davon, ob die jeweilige Person tatsächlich den entsprechenden Reifegrad besitzt).

Als sinnvolle Grenze, ab der dem Individuum das unhinterfragbare „Menschenrecht auf Leben“ zugesprochen werden sollte, bietet sich Hoerster zufolge allein die Geburt an. Grund: Vor der Geburt hat kein menschliches Individuum ein echtes Überlebensinteresse, weshalb durch eine rechtliche Untersagung der Abtreibung zu viel verboten würde. Nach der Geburt aber entwickelt sich in den ersten zwei Lebensjahren ein echtes Überlebensinteresse, was bedeutet, dass eine etwaige Entkriminalisierung der Kindstötung zu wenig verbieten würde, da hierdurch Individuen in ihrer Existenz bedroht werden könnten, die sehr wohl dem fundamentalen ethischen Kriterium für ein „Menschenrecht auf Leben“ genügen.

Auch wenn Hoerster in aller Klarheit verdeutlicht, dass Embryonen nicht den Kriterien entsprechen, die einen qualifizierten Lebensschutz im Sinne des „Menschenrechts auf Leben“ nach sich ziehen, so möchte er ihnen doch nicht einen schlichten Lebensschutz verwehren, schließlich sind Embryonen potentielle Menschen und sollten aufgrund dieser potentiellen (nicht wegen ihrer aktuellen) Qualitäten besondere Wertschätzung genießen. Im Unterschied zum qualifizierten Lebensschutz, der jedem geborenen menschlichen Individuum zusteht und der (außer in klar umrissenen Notwehrsituationen) nicht in Frage gestellt werden darf, kann dieser schlichte Lebensschutz prinzipiell bei gerechtfertigten widerstrebenden Interessen aufgekündigt werden (beispielsweise wenn eine Frau, deren Interessen in der ethischen Debatte weit höher gewichtet werden müssen als die Interessen des noch nicht mit Ichbewusstsein ausgestatteten Embryos, sich dazu entschließt, das Kind nicht auszutragen).

Was nun für den Embryo in vivo (im Mutterleib) gilt, trifft selbstverständlich auch auf den Embryo in vitro (im Reagenzglas) zu. Hoerster analysiert die ethischen Implikationen des seit einiger Zeit heftig diskutierten Verfahrens der Präimplantationsdiagnostik und verteidigt dieses gegenüber Kritikern, u.a. indem er das Vorurteil widerlegt, dass die Anwendung der PID zu einer Diskriminierung von Behinderten führen müsse. Auch die Nutzung von Embryonen zu Forschungszwecken hält er angesichts der durchaus begründeten Hoffnung auf bessere therapeutische Verfahren für ethisch gerechtfertigt, zumal nur Embryonen im allerfrühsten Entwicklungsstadium Verwendung fänden. In diesem Zusammenhang weist er zu Recht darauf hin, dass auch der Embryo im Mutterleib vor seiner Einnistung keinerlei rechtlichen Schutz genießt. (So gilt beispielsweise die Verwendung der sog. „Pille danach“, die die Einnistung des Embryos verhindert, nicht als Abtreibung, sondern als eine im vollen Umfang rechtmäßige Form der Empfängnisverhütung.) Der schlichte Lebensschutz für Embryonen legitimiert demnach keine strafrechtlichen Verbote oder Sanktionen, sondern verlangt vielmehr unterstützende Maßnahmen wie Schwangerenberatung und finanzielle Unterstützung im Falle des Embryos in vivo, sowie eine strenge öffentliche Überwachung der Forschung an Embryonen in vitro, die nur in seriösen Fachlaboren erfolgen darf.

Fazit: Hoersters Essay gehört (auch aufgrund seiner vielen erhellenden Fallbeispiele) sicherlich zum Besten, was bislang über das heikle Thema des Embryonenschutzes geschrieben wurde. Die Lektüre sei besonders jenen empfohlen, die den ehemaligen Mainzer Professor (meist ohne dessen Werke studiert zu haben) als „Mörderphilosophen“ beschimpfen. Die Euro 3,60, die dieses Reclamheftchen kostet, sind auf jeden Fall bestens investiert. Hoersters brillante, auch für Themeneinsteiger verständliche, rechtsphilosophische Abhandlung sollte in keiner gut sortierten Bibliothek fehlen.

der blaue reiter – Journal für Philosophie, Heft 16, Thema: Sex

Mit seiner Auflage von 4500 Exemplaren zählt der blaue reiter zu den meistverkauften Philosophiezeitschriften deutscher Sprache. Das Erfolgsrezept des blauen reiters besteht nicht zuletzt darin, dass sich dieses „Journal für Philosophie“ nicht als Fachzeitschrift im üblichen Sinne versteht, sondern gezielt auch das interessierte „Laienpublikum“ anspricht. Dies zeigt sich u.a. darin, dass die Redaktion größten Wert darauf legt, die philosophischen Gedankengänge auf besonders verständliche, lebendige Weise zu vermitteln. Durch die Übersetzung fremdsprachlicher Zitate und die separate Erläuterung von Fach- und Schlüsselbegriffen wird es auch dem interessierten Laien ermöglicht, komplexe philosophische Argumentationsmuster nachzuvollziehen. Dadurch, dass sich jedes Heft einem speziellem Themenbereich widmet, kann sich der Leser einen guten Überblick darüber verschaffen, auf welch unterschiedliche Weise sich Philosophen dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand genähert haben.

Die aktuelle Ausgabe des Journals (Heft 16) behandelt ein Thema, um das Philosophen der Vergangenheit häufig einen weiten Bogen gemacht haben – und das auch heute noch in philosophischen Seminaren (wenn überhaupt!) nur am Rande Erwähnung findet: Sex. Wer da meint, Sex sei ein für Philosophie nicht sonderlich ergiebiges Thema, wird durch das Journal eines Besseren belehrt. Sämtliche Artikel des Heftes sind lesenswert, so dass es schwer fällt, einzelne Beiträge hervorzuheben. Ein Teil der Artikel nähert sich der Thematik über informative, leicht nachvollziehbare (selbst im Falle Luhmanns – ein Lob an die Verfasserin!) Analysen der Ansätze ausgewählter Philosophen, Soziologen und Schriftsteller, darunter Herbert Marcuse (Otto-Peter-Obermeier: Herbert Marcuses „Wiedererotisierung der Welt“), Michel Foucault (Wolfgang Detel: Macht- und Geschlechterverhältnisse im klassischen Altertum), Lou Andreas-Salomé („…Du musst nicht erst Weib werden…“), Jean-Paul Sartre (Laszlo Tengely: Fleisch werden. Jean-Paul Sartre und die philosophische Entdeckung des Begehrens), Michel Houellebecq (Oliver Kobold: Die langsame Entzweiung der Körper) und Niklas Luhmann (Gabriele Strobel-Eisele: Und immer wieder ist es Liebe… Zur Codierung von Intimität). Besonders erfreulich ist, dass auch Ludwig Feuerbach (Christine Weckwerth: Liebe als philosophisches Programm?) sowie der leider bis heute verfemte „Philosoph der Wollust“, Julien Offray de La Mettrie (Bernd A. Laska: La Mettrie und die Kunst, Wollust zu empfinden), ausführlich gewürdigt werden. Ergänzt werden diese eher autorenbezogenen Beiträge durch Überblicksartikel zu bestimmten Fragestellungen, u.a. durch Tilmann Walters „kurze Geschichte der Sexualität“ sowie Carlos Obergruber-Boerners gleichermaßen vergnügliche wie aufschlussreiche „kleine Geschichte des nackten Körpers“. Ein Lexikon zu den Begriffen „Geburt“, „Gender“, „Orgasmus“ und „Phallos“, ein Artikel plus Interview zur Sex-/Gender-Problematik (Carol Hagemann-White/Barbara Duden), sowie zahlreiche Rezensionen runden den mit Zeichnungen von Jochen Wahl schön illustrierten Band ab.

Insgesamt zeigt sich der blaue reiter mit dieser Ausgabe wieder einmal von seiner besten Seite. Es ist das große Verdienst der Zeitschrift, gezeigt zu haben, dass es auch in Deutschland möglich ist, Philosophie aus den staubigen Gemächern des Elfenbeinturms zu befreien und in die Lebenswirklichkeit zurückzuholen. Kritisch anzumerken ist für das vorliegende Heft allenfalls, dass die neueren Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Forschung (beispielsweise auf dem Feld der Evolutionsbiologie) keine Beachtung fanden, was zu einem problematischen Übergewicht geistes- und sozialwissenschaftlicher Perspektiven geführt hat. Auch hätte man sich vielleicht gewünscht, dass der Artikel zum Verhältnis von Sexualität und Christentum (Regina Annicht Quinn: Vergifteter Eros? Zum krisenhaften Verhältnis von Sexualität, Eros und christlicher Religion) nicht ausgerechnet von einer katholischen Theologin geschrieben worden wäre. Zwar darf man Quinn bescheinigen, dass sie die Kultur der christlichen Leibfeindlichkeit – anders als viele ihrer Kollegen – nicht beschönigt, ihre Feststellung aber, dass aus den biblischen Texten selbst eine „durchaus nicht negative Sicht gegenüber der Sexualität“ abgelesen werden könne, wird der informierte Leser schwerlich nachvollziehen können. Diese Aussage scheint weit weniger der empirischen Textbasis als dem Wunschdenken der Autorin zu entsprechen, die mit Hilfe dieses Arguments offensichtlich versucht, ihre (etwas leerformelhafte) Vorstellung einer möglichen Vereinigung von „Sexuellem“ und „Religiösem“ gegen etwaige theologische Angriffe abzusichern. In Wirklichkeit ist Quinns Aussage, Jesus habe bis auf das (rigorose) Scheidungsverbot keine Aussagen zu Fragen der Sexualität gemacht, schlicht und ergreifend falsch. Schließlich ist es gerade der Jesus der Evangelien, der für eine verhängnisvolle Verschärfung des alttestamentarischen Sittenkodexes verantwortlich zeichnet. So heißt es in der viel gerühmten, jedoch meist nur selektiv gelesenen Bergpredigt (Mt. 5,27 ff.) „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verlorengeht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird…“

Wir lernen: Eine angeblich „nicht negative Sicht gegenüber der Sexualität“ kann sich offensichtlich darin ausdrücken, dass ein einziger „unkeuscher“ Gedanke mit ewigem Höllenfeuer bestraft wird! Dass das Ganze nicht bloß metaphorisch gemeint war, mögen vielleicht die Worte des Apostel Paulus im „Brief an die Römer“ (in Theologenkreisen als „Testament des Paulus“ bezeichnet) verdeutlichen. Was dieser dort beispielsweise zum Thema Homosexualität als Heilslehre verkündet, lässt keinen Raum für milde Verniedlichungsformeln a la Quinn oder „Wort zum Sonntag“: „Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung… Wer so handelt, verdient den Tod.“

Fazit: Auch wenn man sich (wie immer!) über die eine oder andere Aussage trefflich streiten kann, so ist das Themenheft „Sex“ des blauen reiter zweifellos jeden einzelnen Cent wert: Lesenswerte Artikel, schönes Layout, spannende Themen – mehr wird man für € 15,10 (Einzelheft) bzw. € 25,10 (Jahresabo für 2 Ausgaben) nirgendwo geboten kommen! Die Anschaffung sei daher dringend empfohlen!

Konrad Riggenmann: Kruzifix und Holocaust. Über die erfolgreichste Gewaltdarstellung in der Weltgeschichte. Espresso Verlag, Berlin. 448 Seiten. 19,90 EUR

Dass das christliche Kruzifix kein Sinnbild der Erlösung, sondern vielmehr ein Symbol blanker Gewalt ist, wurde selten so eindrucksvoll belegt wie in dieser Studie. Zwar liegen bereits zahlreiche Arbeiten vor, die die erschreckende Kontinuität des religiös geprägten Antisemitismus in der Geschichte („von Golgatha bis Auschwitz“) aufzeigen, Riggenmanns Leistung besteht aber darin, die besondere affektive Bedeutung der Passionsgeschichte in aller Klarheit herausgestellt zu haben, sprich: das unheilvolle Wechselspiel von Mitleid mit dem Opfer und der Rachlust gegenüber den vermeintlichen Tätern. Trotz der vielen Details und der verschiedenen kulturhistorischen wie psychologischen Exkurse ist das Buch leicht verständlich und sehr eingängig geschrieben. Dabei ist vor allem herauszuheben, dass Riggenmann das oftmals menschenfresserische historische Geschehen weder moralisch-betroffen noch teilnahmslos-nüchtern schildert. Vielmehr gelingt es ihm, jenen feinen, traurig-humorvollen Ton zu treffen, der charakteristisch ist für den so genannten „jüdischen Witz“. Mit seiner Hilfe gelang es den Marginalisierten bekanntlich immer wieder, ihrem traurigen Schicksal zu trotzen. (Riggenmann erzählt in diesem Zusammenhang u.a. die schöne Geschichte vom kleinen Fritz, der in den zwanziger Jahren seiner Sandkastenkameradin Sarah erzählt, dass er nicht mehr mit ihr spielen dürfe, weil die Juden doch Jesus gekreuzigt hätten. Sarah läuft wütend nach Hause, kommt aber nach zehn Minuten wieder zurück und sagt: „Also hör mal Fritzi! Ich war’s nicht, Mama war’s nicht, Papa war’s nicht und Tante Betty auch nicht. Das müssen die Cohns von nebenan gewesen sein.“)

Fazit: Auch wenn man sich über die eine oder andere tiefenpsychologische Interpretation vielleicht streiten kann, Riggenmanns hervorragend geschriebenes Buch ist eine überaus wertvolle Fundquelle für jeden, der sich mit der Geschichte des Antisemitismus und den Folgen der christlichen Symbolik beschäftigen möchte. Anschaffung dringend empfohlen!

Drewermann, Eugen: Hat der Glaube Hoffnung? Von der Zukunft der Religion am Beginn des 21. Jahrhunderts. Düsseldorf: Walter Verlag, 2000. 327S., DM 49,80, sFr 46,00.

Der streitbare Theologe Eugen Drewermann ist ein enorm produktiver Autor, der mittlerweile auf mehr als 60 Buchpublikationen zurückblicken kann. Das vorliegende Buch gehört sicherlich zu seinen Besten. Selten zuvor hat er die Schattenseiten der Religionen so klar hervorgehoben, ihre Funktion als Herrschafts- und Vertröstungsmittel in dieser Schärfe attackiert. "Kein Krieg ohne kirchlichen Beistand", schreibt Drewermann. Ob bei den Giftgasangriffen vor Verdun oder beim Abwurf der Atombombe auf Hiroshima - geistliche Würdenträger standen den Militärs stets hilfreich zur Seite. Drewermann kommentiert: "So nutzte die Religion dem Staatserhalt, so diente sie der Stählung und Stärkung des Gruppenegosimus der jeweiligen Kirchenklientel, so erwies Gott der Allmächtige seine Macht - und war doch bei alledem nichts weiter als ein ohnmächtiger Popanz, ein mißbrauchter Götze in den Händen spielender Pastöre, ein scheinbar unentbehrliches Dekorativum bestimmter Traditionsverbände. Zu spät der Aufruf der römischen Kirche im Jahre 2000 für eine Generalamnesie all ihrer Fehler und Verbrechen. Die Toten stehen nicht mehr auf, und die Überlebenden sind gewarnt."

Trotz der fundamentalen Kritik, die Drewermann an religiösen Institutionen (vor allem der katholischen Kirche) übt, setzt er große Hoffnung auf eine Wiederbelebung des Glaubens, der ihm als eine notwendige Alternative zur zunehmenden Durchökonomisierung aller Lebensverhältnisse erscheint. Ein solcher zukunftsfähiger Glaube müsse - so legt er unter Berufung auf die Geschichte des Jeremia dar - von jeglichen Formen der Fremdbestimmung und Außenlenkung befreit werden, die Zukunft der Religion liege allein im persönlichen Erleben der Individuen - jenseits der dogmatischen, lebensverneinenden Vorgaben religiöser Institutionen. Um diese Position zu begründen, sucht Drewermann u.a. Rat bei fernöstlichen Religionen und Weisheitssystemen (Buddhismus, Hinduismus, Taoismus). Diese hätten, so Drewermann, in vielen Punkten einen reiferen Zugang zu Gott bzw. zum Leben gefunden als das institutionalisierte Christentum.

Den monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam empfiehlt Drewermann, an die Stelle einer "historisch-äußerlichen Interpretation" der jeweiligen Quellentexte eine "symbolisch-innerliche" zu setzen. Während die historische Interpretation auf eine Begründung von religiöser und militärischer Gewalt hinausliefe, könne die symbolische Deutung den "Heiligen Krieg" entschärfen und als liebevolle Aufforderung zum Kampf mit dem "Unglauben im eigenen Herzen" begreifen.

Drewermann gibt sich in der Folge sehr viel Mühe, Möglichkeiten und Ergebnisse einer solchen symbolischen Deutung aufzuzeigen. Es bleibt aber fraglich, ob die von ihm dargelegte Perspektive überzeugend ist. (Wie soll man es z.B. symbolisch und "liebevoll" deuten, dass Gott nach Dt 7,1.2.5.16 die Völker der "Hethiter, Girgasiter, Amoriter Kanaaniter, Persiter, Hewiter und Jebusiter ausrottet" und auch seinem eigenen, "auserwählten Volk" befiehlt, keinerlei Gnade zu üben?)

An dieser Stelle zeigt sich die entscheidende Schwäche des Buches. Um die explosiven, menschenverachtende Gehalte der religiösen Quellentexte zu entschärfen, geht Drewermann mit der Bibel, dem Koran und der Thora um, als habe er Grimms Märchen vor sich liegen. (Bekanntlich hat er auch diese bereits einer neopsychoanalytischen Interpretation unterzogen.) Hieran wäre freilich nichts auszusetzen, wenn Drewermann diesen kritischen Denkansatz, der letztlich auf eine radikale "Entzauberung" religiöser Glaubenssätze hinausläuft, konsequent zu Ende führen würde. Stattdessen aber verwendet er weiterhin religiöse Leerformeln, die rein sprachlich noch den Kontakt zu einer Tradition aufrechterhalten, die er inhaltlich längst verlassen hat. (Nicht umsonst hat die römische Kirche ihn vor zehn Jahren vom Priesteramt suspendiert.)

Fazit: Drewermanns Kritik an institutionalisierter Religion, Staat und Wirtschaft ist über weite Strecken klar, präzise und sprachlich geschliffen (auch wenn er z.B. die Herrschaftsfunktion östlicher Religionen völlig übersieht). Im Kontrast hierzu wirken seine Lösungsangebote merkwürdig nebulös und in sich widersprüchlich. (Man fühlt sich an einen Ausspruch Jean Amérys erinnert, der hinter der scheinbar progressiven "Theologie der Lehrformeln" eine "nicht eingestandene Selbstsäkularisierung des Christentums" vermutete.) Möglicherweise aber macht gerade dieser Bruch das Buch interessant: Die Diskrepanz zwischen der Erkenntnis des ungeheuren Bedrohungspotentials, das von den Religionen ausgeht, und der enormen Schwierigkeit, diesem Bedrohungspotential eine tragfähige, menschliche Alternative entgegenzusetzen, kam selten so deutlich zur Geltung wie in diesem Buch.

Rupert Sheldrake/Matthew Fox: Engel. Die kosmische Intelligenz. München, 1998, Kösel-Verlag, 336 Seiten, DM 44,-. ISBN 3-466-36504-X

 Ich gestehe: Vor einiger Zeit  hielt ich Rupert Sheldrake für einen durchaus ernstzunehmenden Wissenschaftler. Seine Ende der achtziger Jahre erstmals veröffentlichte "Theorie der morphogenetischen Felder" schien mir eine zwar unorthodoxe, aber in ihrer Gesamtheit doch diskussionswürdige Alternative zum grassierenden DNA-Fundamentalismus vieler moderner BiologInnen zu sein. Spätestenes nach der Lektüre der gemeinsam mit dem Theologen Mattew Fox publizierten Arbeit über die "kosmische Intelligenz der Engel" befürchte ich , die Dinge anders sehen zu müssen.

Das in Dialogform abgefasste Buch ist in fünf größere Kapitel unterteilt. Im einleitenden Kapitel "Die Wiederkehr der Engel und die neue Kosmologie" versuchen die Autoren, das Thema zu umreißen (vor allem beschäftigen sie sich mit den vermeintlichen Parallelen von Engelsglauben und naturwissenschaftlicher Forschung). In den Kapiteln zwei bis vier werden Texte von Dionysios Areopagita, Thomas von Aquin und Hildegard von Bingen vorgestellt und interpretiert. Im abschließenden Ausblick "Engel im neuen Jahrtausend" fassen Sheldrake und Fox die obskuren "Ergebnisse" ihrer Untersuchung zusammen. Außerdem legen sie eine Liste von "Fragen für die Zukunft" vor, die die gedankliche Unklarheit der Autoren noch einmal in aller Deutlichkeit demonstrieren.

Das Erstaunlichste an diesem Buch ist zweifellos die Art, wie hier komplexe naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit dümmstem, metaphysischem Spuk vermengt werden. (Die Autoren stützen sich nicht nur auf die Visionen der epileptischen Hildegard, sondern auch auf die epochemachenden Arbeiten von Einstein, Planck und Bohr.) Ja, mitunter könnte man sogar schmunzeln über diesen holprigen Versuch, die Existenz von Engeln in das naturwissenschaftliche Weltbild zu integrieren (z.B. über die tendenzielle Gleichsetzung von Engeln und Photonen), wären da nicht die vielen Textstellen, in denen das rückwärtsgewandte Engagement der Verfasser ungeschminkt zu Tage tritt. Denn es ist das erklärte Ziel der Autoren zu einer "Resakralisierung der Welt", einer "Heiligung des Kosmos" beizutragen, weil angeblich nur auf diese Weise der Untergang unserer Spezies zu verhindern ist. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass Sheldrake und Fox das Buch den Engeln gewidmet haben - "in der Hoffnung, dass sie wiederkehren, um uns in das neue Jahrtausend zu geleiten".

Die anti-säkulare Stoßrichtung des Buches wird bereits in der Einleitung deutlich. Dort heißt es: "Engel zu studieren bedeutet, ein Licht auf uns selbst zu werfen, besonders auf diejenigen Aspekte, die in unserer säkularen Zivilisation, in unserem säkularen Schulsystem und sogar in unseren säkularen Gottesdiensten [sic!] unterdrückt worden sind." Den Autoren zufolge war schon die Moderne ein schrecklicher Holzweg. Offen loben sie die prämodernen Kulturen der Vergangenheit, in denen die Menschen an Geistwesen aller Art glaubten. Auch der Astrologie sprechen sie eine überaus wichtige Bedeutung zu. (In diesem Zusammenhang wird auch die astrologische Fundierung der US-Politik unter Ronald Reagan gewürdigt. Dass der astrologiegläubige Reagan u.a. die Staatsschulden der USA in astronomische Höhen katapultierte, wird selbstverständlich dezent verschwiegen)

Fazit: Sollte Sheldrake das Ziel gehabt haben, seinen Ruf als Wissenschaftler völlig zu ruinieren, so ist ihm dies spätestens mit dem vorliegenden Buch hinreichend gelungen. In einem der wenigen lichten Momente dieses Buches heißt es: "Aus diesem Grund sind ja säkulare Humanisten und Rationalisten gegen jede Form von Religion. Wenn man die guten Engel einlässt, dann bekommt man auch die bösen - zusammen mit Verfluchungen und Aberglauben, jenem Alptraum der Hexerei, den die mechanistische, rationalistische Weltsicht für immer beseitigt glaubte." Dass die Autoren trotz dieser Erkenntnis den Engelsglauben wiederbeleben möchten, sollte man freilich nicht auf die transzendentalen Wirkungen vermeintlicher Gottesboten zurückführen, sondern vielmehr auf die durch und durch irdischen Nachwirkungen religiöser Sozialisation, denen sich - wie dieses Buch eindrucksvoll zeigt - selbst kluge Köpfe allzu oft nicht entziehen können.

Leo Booth: Wenn Gott zur Droge wird. Missbrauch und Abhängigkeit in der Religion. Schritte zur Befreiung. München, 1999, Kösel-Verlag, 339 Seiten, DM 36,-/öS 252,-/sFr 34,10. ISBN3-466-36528-7

 "Ich bin Alkoholiker, drogenabhängig, das Kind eines Alkoholikers und ein genesender römisch-katholischer Christ!" Als Leo Booth diese eigenwillige Form der Selbstbeschreibung das erste Mal hörte, musste er unwillkürlich schmunzeln. Doch er wußte nur zu genau, dass sich hinter der saloppen Formulierung eine sehr ernste Erkenntnis verbarg. Denn auch er empfand sich zunehmend als religiös abhängig, schlimmer noch: je mehr er darüber nachdachte, desto mehr erkannte er, dass er als Priester der anglo-katholischen Bewegung (eine Strömung innerhalb der Kirche Englands) selbst zur Verbreitung dieser Sucht beigetragen und zahlreiche Mitmenschen religiös missbraucht hatte.

"Religiöse Abhängigkeit bedeutet", so schreibt Booth in der Einleitung seines Buches, "Gott, eine Religion oder ein Glaubenssystem als Mittel zur Flucht vor schmerzhaften Gefühlen oder zum Gewinn von Selbstachtung zu benutzen. Religiöse Abhängigkeit beinhaltet die Übernahme eines starren Glaubenssystems, eines Systems, in dem es nur einen einzigen Weg gibt. Der religiös Abhängige fühlt, dass er diesen einen richtigen Weg anderen aufzwingen muss. Die Mittel hierzu sind: Schuld- und Schamgefühle, Angst Gehirnwäsche und Elitedenken. So führt religiöse Abhängigkeit fast immer zum Missbrauch anderer im Namen des eigenen Glaubens."

Dass Booth seines eigene Religionssucht überhaupt erkennen konnte, verdankte er gewissermaßen Väterchen Alkohol. In der anglo-katholischen Bewegung spielen Booth zufolge drei Dinge eine fundamentale Rolle: "die Verehrung der gesegneten Jungfrau Maria, der Weihrauch und ein gutes Glas Gin Tonic." Da Booth ein in jeder Hinsicht konsequenter Priester war, traf man ihn meist betrunken oder verkatert an, bis er 1977 in alkoholisiertem Zustand seinen Wagen unsanft gegen einen Baum setzte. Damals hatte er, wie er heute sagt, seinen ersten lichten Moment: "Deutlich sah ich, was aus mir geworden war, und es gefiel mir ganz und gar nicht." Nach einer mehrmonatigen stationären Behandlung schloss er sich den Anonymen Alkoholikern an, in deren Reihen er langsam feststellte, dass sich hinter seiner Alkoholkrankheit eine noch viel gefährlichere Sucht verbarg: seine religiöse Abhängigkeit. Nichts lag also näher, als die Zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker auf den Bereich der religiösen Abhängigkeit zu übertragen. Nachdem Booth auf diese Weise selbst "spirituelle Nüchternheit" erlangt hatte, begann er damit, Gruppen von religiös Abhängigen zu leiten und auf diese Weise anderen religiös Missbrauchten zu helfen.

Booths Buch berichtet eindringlich von diesem schwierigen Weg zur "Abstinenz von religiöser Abhängigkeit", es erläutert die Wurzeln religiösen Mißbrauchs, gibt wertvolle Tips zur praktischen Anwendung der "Zwölf Schritte." Zudem enthält es einen detaillierten Behandlungsplan, den sich Angehörige helfender Berufe zu Gemüte führen sollten. (Leider ist ja vielen TherapeutInnen religiöser Missbrauch als Quelle psychischer Leiden völlig unbekannt.).

Sicherlich hat das Buch auch seine Fehler: So hat Tilmann Moser (in seiner Besprechung des Buches in der Süddeutschen Zeitung) zu Recht die laienpsychologische Herangehensweise des Buches kritisiert. In der Tat übersieht Booth einen Großteil der Literatur zum Thema, was ihn dazu verleitet, fälschlicherweise zu glauben, als Erster die Gefahren der religiösen Epidemie entdeckt zu haben. (Die Zuschreibung von Originalität beruht bekanntlich häufig auf mangelnder Literaturkenntnis!) Dennoch muss man festhalten: Es gibt kaum ein Buch, in dem der Tatbestand religiöser Abhängigkeit so klar und offen geschildert wird wie in dem Buch des genesenden Alkoholikers und genesenden christlichen Fundamentalisten Leo Booth.

Konsequent religionskritisch denkende LeserInnen werden mit dem Buch dennoch nicht gänzlich einverstanden sein. Denn wie in den "Zwölf Schritten" der Anonymen Alkoholiker so ist auch bei Booth immer wieder unkritisch von "Gott" die Rede. Zwar unterscheidet Booth deutlich zwischen Religion und Spiritualität (und nur letztere ist für ihn Bestandteil des Zwölf-Schritte-Programms): "Ich sage deutlich, dass Menschen spirituell sein können, ohne religiös sein zu müssen - und religiös, ohne spirituell zu sein. Religion ist ein Glaubenssystem, das um einen Propheten, einen Lehrer oder um eine Reihe von Menschen gemachter Grundsätze herum organisiert ist. Spiritualität dagegen ist die Fähigkeit, seine eigene, einzigartige Besonderheit zu entdecken und zu entfalten. Religion ist auf diesem Wege keinesfalls immer hilfreich." Diese Erkenntnis hindert Booth jedoch nicht daran, sich weiterhin als christlichen Priester zu bezeichnen, das heißt, weiterhin einen Glauben zu vertreten und zu verbreiten, den man nur in Unkenntnis der biblischen Schriften bzw. nur unter Verlust seiner eigenen intellektuellen Redlichkeit mit einem "spirituellen", oder sagen wir besser: humanistischen Selbstentfaltungsprogramm in Zusammenhang bringen kann (vgl. Schmidt-Salomon: Erkenntnis aus Engagement, 1999, S. 214ff.).

In diesem Zusammenhang hätte Booth vielleicht doch seinen Lieblingsautoren Erich Fromm etwas genauer lesen sollen. Fromm, gleichermaßen brillant als Soziologe wie als Psychoanalytiker, wußte nur zu genau, welches Unheil das Wort "Gott" in der Geschichte angerichtet hatte. Deshalb sprach er - wenn er sich mit dem Phänomen der Transzendenzerfahrung beschäftigte - von "X-Erfahrung" statt von "Gotteserfahrung". Aber vielleicht ist Booth noch nicht so weit, sich auch in diesem Punkt von seinen ungesunden, religiösen Vorprägungen zu emanzipieren.

Kommen wir zum Schluss: Leo Booths Buch über Missbrauch und Abhängigkeit in der Religion sollte in keiner gut sortierten Bibliothek fehlen. Es dokumentiert nicht nur vorzüglich die verheerenden inneren Zwänge religiöser Abhängigkeit, sondern zeigt auch Möglichkeiten auf, sich von diesen zu befreien. Und dies sollte nicht nur konfessionell gebundene Menschen interessieren, sondern auch zahlreiche Konfessionslose. Denn "ekklesiogene Neurosen" sind bekanntlich weit hartnäckiger als staatlich eingetriebene Kirchensteuern. Von ihnen kann man sich nicht kurzfristig - durch eine Unterschrift beim örtlichen Amtsgericht - befreien. An ihnen knabbert so mancheR ein Leben lang. Ob innerhalb oder außerhalb süchtigmachender Religionsgemeinschaften.

Augstein, Rudolf: Jesus Menschensohn. Erweiterte und aktualisierte Neuauflage. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1999. 573 S., DM 54,- / öS 394,- /sFr 49,-.

Als 1972 die erste Auflage von "Jesus Menschensohn" erschien, waren viele empört: Was - um alles in der Welt - trieb Rudolf Augstein, den Herausgeber des Spiegel, dazu, mit dem Christentum so radikal abzurechnen? Anders als die meisten anderen KirchenkritikerInnen befasste sich Augstein nicht vordringlich mit der Geschichte der Kirche, deren Verbrechen gerne mit dem Verweis auf das "Allzumenschliche" entschuldigt werden. Augsteins Angriff war radikaler, er ging ans Eingemachte, an den Kanon jener Wahrheiten, die kein Christ aufgeben kann ohne seine christliche Identität zu verlieren. Dabei wies er nach, dass - so wenig gesichert unser Wissen über die historischen Vorgänge auch ist - eines doch unzweifelhaft feststeht: der historische Jesus von Nazareth (sofern es ihn überhaupt gab) hatte kaum etwas gemein mit jenem geheimnisvollen Gottessohn, der zur Grundlage des christlichen Glaubens wurde und auch heute noch von ChristInnen in aller Welt verehrt wird.

27 Jahre später, rechtzeitig vor dem Beginn des "Heiligen Jahres" 2000, legt Augstein nun eine gründlich überarbeitete, aktualisierte und in vielerlei Hinsicht verbesserte Neuauflage seines Bestsellers vor. Schon im Vorwort enttäuscht er all jene, die von dem 75-Jährigen eine altersbedingte Revision seiner Ansichten erhofft haben: "Spekulationen darüber, daß ich [...] die viel beschworene Umkehr vorgenommen und mich nun eines besseren besonnen hätte, gar in den "Schoß der Kirche" zurückkehren würde, dürften sich nach der vorliegenden Lektüre erübrigen."

Wohl wahr: Augstein deckt in seinem fast 600-seitigen Werk nicht nur die gravierenden Widersprüche in den biblischen Jesusdarstellungen auf (er begründet diese mit den unterschiedlichen Missionsinteressen der Verfasser). Er dokumentiert darüber hinaus gewissenhaft die verunglückten Versuche christlicher TheologInnen, dem nebulösen, in sich widersprüchlichen Christusmythos irgendeine halbwegs vernünftige Bedeutung abzuringen. Gegenüber der Erstauflage neu hinzugekommen ist eine ausführliche Darstellung der Entwicklung der jüdischen Gottesidee. Augsteins Schilderung des merkwürdigen Siegeszugs Jahwes, der es immerhin vom provinziellen Berggott zu einem weltweit anerkannten Monopolisten in Gottesfragen gebracht hat, macht klar, dass nicht nur das Neue Testament historisch auf Sand gesetzt ist, sondern die gesamte Bibel. Moses zum Beispiel ist ebenso sehr Kunstfigur wie Jesus. Falls er überhaupt gelebt hat, so doch mit Sicherheit anders, als dies im Alten Testament überliefert wird. Einen Auszug des gesamten jüdischen Volkes aus Ägypten hat Moses nie angeführt (denn den hat nie gegeben) und aller Wahrscheinlichkeit war er nicht einmal Monotheist (der Ein-Gott-Glaube setzte sich erst im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung durch, d.h. mehr als ein halbes Jahrtausend nach dem vermeintlichen Exodus).

Augsteins Buch ist packend geschrieben, auch wenn so manches Mal in der Fülle der Details der rote Faden verlorenzugehen droht. (Glücklicherweise verfügt das Buch aber nebst Zeittafel über ein gut strukturiertes Register.) Kritisch anzumerken ist allenfalls, dass Augstein die wichtigen Erkenntnisse jüdischer Jesusforscher (beispielsweise Pinchas Lapide und Hyam Maccoby), die vor allem auf gravierende Fehlübersetzungen der Bibel hingewiesen haben ("Übersetzung übt Ersetzung"), nicht in sein Werk mit aufgenommen hat. Dies hätte wahrscheinlich geholfen, dem Bild des hinreichend fehlverstandenen, jüdischen Wanderpredigers schärfere Konturen zu geben. An der Grundaussage hätte sich dadurch freilich nichts geändert: Es ist in der Tat ein ungeheurer Skandal, dass sich die Kirchen auch heute noch "auf einen Jesus berufen, den es nicht gab, auf Lehren, die er nicht gelehrt, auf eine Vollmacht, die er nicht erteilt, und auf eines Gottessohnschaft, die er selbst nicht für möglich gehalten und nicht beansprucht hat".

Fazit: Es ist zu hoffen, dass "Jesus Menschensohn" (auch dank der Prominenz seines Verfassers) wieder seinen Platz auf den Bestseller-Listen findet. Als Gegengift zu den theologischen Phantasieprodukten, die im christlichen Jubiläumsjahr auf uns niederprasseln werden, ist das Buch geradezu unersetzlich. Es demonstriert eindrucksvoll, dass es im Bereich der Religionskritik nicht ausreicht, die religiösen Institutionen allein anhand des von ihnen angerichteten geschichtlichen Unheils zu kritisieren. Notwendig ist darüber hinaus ein gewissenhafter Blick in die "heiligen" Schriften selbst. Denn die Demonstration der historischen Unglaubwürdigkeit dieser Schriften dürfte die religiöse Einfalt noch stärker treffen als all die Kriminalgeschichten, die man über die Entwicklung religiöser Institutionen zu schreiben vermag. Augsteins Religionskritik ist - so sachlich sie auch vorgetragen wird - radikal, denn sie geht an die Wurzeln des christlichen Glaubens. Sie legt schonungslos offen, dass das Christentum ein alle historische Fakten negierender Aberglaube ist, ein Hirngespinst, das sich nur deshalb ausbreiten konnte, weil es unter bestimmten historisch-sozialen Umständen hervorragend als Herrschaftsideologie taugte. "Verdrängen ist gut, Bewußtmachen ist besser", schreibt Rudolf Augstein am Ende seines Buches. Hoffen wir, dass der aufklärerische Impuls des Spiegel-Herausgebers nicht hoffnungslos untergehen wird in den Jubelgesängen, Kirchenchorälen und Festgottesdiensten des scheinheiligen Jahres.

Heribert Blondiau/Udo Gümpel: Der Vatikan heiligt die Mittel. Mord am Bankier Gottes. Düsseldorf, 1999, Patmos Verlag, 252 Seiten, DM 39,80, ISBN3-481-72417-1

Die Filmdokumentation über den politischen Mord an Roberto Calvi lief unlängst auf Arte, nun erschien im Patmos-Verlag das von Vielen mit Spannung erwartete Buch zum Film, das detailreich über die Hintergründe der Ermordung des sogenannten "Bankiers Gottes" informiert. Das Buch der Journalisten Blondiau und Gümpel ist gründlich recherchiert und spannender zu lesen als jeder Krimi. Die Autoren belegen eindrucksvoll, dass der 1982 erfolgte Mord an dem italienischen Bankier im Interesse höchster politischer Stellen lag, allen voran Vatikan und CIA. Im Fall "Calvi" ging es nämlich nicht nur um die beträchtlichen Geldsummen, die zum Zusammenbruch der katholischen Banco Ambrosiano führten (immerhin der größte Bankchrash in der Geschichte Europas), sondern um weit mehr, um ein konspiratives Unternehmen von wahrhaft welthistorischer Bedeutung: die verdeckte finanzielle Unterstützung der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc, deren Siegeszug das Ende des sowjetischen Systems einleiten sollte.

Dass die Hintergründe der Ermordung Calvis nun langsam ans Tageslicht treten - immerhin 17 Jahre nach der Tat -, ist zum einem der Finesse des italienischen Pathologen Antonio Fornari zu verdanken, der den zunächst gültigen Befund, Calvi habe Selbstmord begangen, stichhaltig widerlegen konnte; zum anderen einem puren Zufall: Bei einer routinemäßigen Hausdurchsuchung eines mutmaßlichen Mafiaangehörigen fanden sich zur Überraschung der Ermittler zahlreiche Briefe, Schecks und Tonbandaufzeichnungen, die belegen, dass der Vatikan einige Milliarden Lire für den Erwerb jener mysteriösen Dokumente zahlte, die Roberto Calvi vor seinem Tod in seiner Aktentasche verstaut hatte. (Bischof Hnilica, der den Deal mit den Mafialeuten einfädelte, wurde später wegen Hehlerei verurteilt) Der Inhalt der Dokumente aus Calvis Aktentasche, die - so sie nicht vernichtet wurden - heute irgendwo in den Geheimarchiven des Vatikans lagern, müssen höchst explosiv gewesen sein. Calvi, der sie wie seinen Augapfel hütete, sah in ihnen die beste Lebensversicherung. Gegenüber seiner Tochter Anna sagte er einmal: "Wenn ich auspacke, dann werden die Priester den Petersdom verkaufen müssen, dann wird kein Stein im Vatikan mehr auf dem anderen bleiben."

Das Buch von Blondiau und Gümpel wirft nicht nur ein Licht auf die Allgegenwart der Mafia in Italien (tief verstrickt in den Mafiadschungel ist nicht nur der Vatikan, sondern viele der bedeutendsten Persönlichkeiten Italiens, u.a. der langjährige Ministerpräsident Andreotti, dessen vor kurzem erfolgter Freispruch sicherlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass dieser Mann über höchst gefährliches Wissen verfügt). Es zeigt nicht nur, dass der Vatikan sich nicht scheut, alle Mittel (incl. Mord) zu heiligen (der Fall Calvi ist bekanntlich nur einer unter vielen, Calvis Vorgänger und Ziehvater Michele Sindona, der ebenfalls auspacken wollte, wurde 1986 im Gefängnis durch Zyankali ermordet). Es verdeutlicht auch, dass es höchst naiv ist, in Papst Johannes Paul II. nichts weiter als einen senilen, sexualneurotischen, alten Mann zu sehen. Denn Johannes Paul II. ist kein weltfremder religiöser Kauz, sondern ein Mann mit höchst realistischer Einschätzung des politisch Machbaren, ein Mann, dessen Politik weit mehr zum Niedergang des Sowjetsystems beigetragen hat, als gemeinhin vermutet wird. Der ehemalige CIA-Vizedirektor Vernon Walters, der von Ronald Reagan als Sonderbotschafter in den Vatikan geschickt wurde, wo er sich regelmäßig mit dem Papst traf, stellte hierzu in einem Interview mit Blondiau und Gümpel fest: "Die Zusammenarbeit zwischen dem Vatikan und den USA, zwischen dem Papst und Reagan, das war der entscheidende Faktor für die Befreiung Polens und den Zusammenbruch des sowjetischen Regimes." Der ehemalige amerikanische Außenminister Alexander Haig fügte hinzu: "Dieser Mann in Rom war ein sehr realistischer Kenner der Welt [... ] Wenn ich an diese Situation von damals zurückdenke, dann kann ich nur eines feststellen: Dieser Papst mit seiner Persönlichkeit, er brachte das meiste mit: Er hatte den größten Anteil am Sieg. Und wenn wir uns heute alle gegenseitig auf die Schulter klopfen, dann gehört dem Vatikan, dem Papst, eindeutig der stärkste Klaps auf die Schultern."

Fazit: Wer sich über die Hintergründe der weltgeschichtlichen Entwicklungen dieses Jahrhunderts ein Bild machen und/oder sich über die finanziellen und politischen Aktivitäten des Vatikans informieren möchte, dem sei das von Blondiau und Gümpel vorgelegte Buch dringend empfohlen. Der einzige Mangel des Buches, das Fehlen von Verweisen auf weiterführende Literatur, wird mehr als wettgemacht durch die gründliche Recherchearbeit der Autoren sowie die vielen spannenden Interviews, die Blondiau und Gümpel durchführten und in "Der Vatikan heiligt die Mittel" wiedergeben. (Allein das Interview mit Lucio Gelli, dem sagenumwobenen Chef der faschistoiden Loge P2, genügt, um den Kaufpreis zu rechtfertigen.) Es ist zu hoffen, dass die von Blondiau und Gümpel dargelegten Fakten nicht völlig untergehen werden in dem mit Spannung erwarteten Prozess um die Ermordung Calvis, der im Herbst 1999 beginnen wird - mehr als 17 Jahre nach dem grausigen Fund seiner Leiche unter einer Londoner Brücke. Angeklagt sind zwei Mitglieder der Mafia, die bei der Planung des Mordes mutmaßlich beteiligt waren. Dass die wahren Hintermänner jemals auf der Anklagebank werden Platz nehmen müssen, ist nicht zu erwarten.

Hanns Cornelissen: Faktor Gott. Ernstfall oder Unfall des Denkens?
Freiburg 1999. Herder;336 S., DM 38,- ISBN 3-451-26904-X

Der Theologe und Philosoph Hanns Cornelissen versucht in seinem Buch "Faktor Gott" die Vereinbarkeit von naturwissenschaftlichem Denken und christlichem Glauben zu demonstrieren. Ein mutiges Unterfangen, für das der Autor mit einem durchaus respektablen Apparat naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und philosophischer Überlegungen aufwartet. Das Buch ist durchweg klar und allgemein verständlich geschrieben, was in Anbetracht der vielfältigen Ausführungen zum gegenwärtigen Stand der theoretischen Physik keine Selbstverständlichkeit ist. Interessanterweise ist es aber gerade diese Stärke des Buches - die Klarheit der Argumentation - , die dem kritischen Leser eindrucksvoll verdeutlicht, daß der Autor sein selbstgestecktes Ziel nicht erreicht.

Cornelissens Buch liegen zwei unterschiedliche Gottesbegriffe zugrunde: das "panentheistische" Gottesmodell ("All-in-Gott-Lehre": hier wird Gott als das "Ganze des Seins" gedacht) und das theistische Modell, das auf der Vorstellung eines personalen Gottes beruht (eines Gottes, der der Welt gegenübersteht und als personales Gegenüber des Menschen in der Lage ist, ethisch verbindliche Normen festzulegen).

Während es Cornelissen durchaus gelingt, das panentheistisches Gottesmodell in Einklang mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu bringen (belegt u.a. auch durch zahlreiche pan- bzw. panentheistische Äußerungen von Einstein, Planck, Heisenberg & Co.), steht das personale, in der Geschichte der christlichen Kirchen wegweisende Gottesmodell auf merkwürdig verlorenem Posten: Entgegen seiner sonstigen Klarheit leistet sich der Autor, sobald es um die Verteidigung christlicher Glaubensüberzeugungen geht, haarsträubende Sophismen (so z.B. wenn er die christliche Leere von der Auferstehung Jesu als "Anwendung des 1. Hauptsatzes der Thermodynamik aus der Physik auf die individuelle Existenz des Menschen" deutet [S.166]) sowie unerhörte intellektuelle Fehlleistungen (z.B. wenn er zur Begründung universal verbindlicher Normen die Existenz eines personalen Gottes postuliert und dabei übersieht, dass die vermeintlich überhistorisch gültigen Zehn Gebote des jüdisch-christlichen Gottes geschichtlich genauso relativ sind wie alle anderen menschlichen Normsetzungen. (Die Zehn Gebote galten bekanntlich ausschließlich für männliche Juden - jüdische Frauen z.B. wurden eingereiht in den Besitz der Männer: "Du sollst nicht nach dem Haus deines Nächsten verlangen. Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, nach seinem Sklaven oder seiner Sklavin, seinem Rind oder seinem Esel oder nach irgend etwas, das deinem Nächsten gehört." Sofern Cornelissen nicht auf Formen patriarchalischer Herrschaft über Frauen- und SklavInnen zurückgreifen möchte - was wir nicht hoffen wollen -, so wird auch er von der Idee der Absolutheit "göttlicher Gebote" Abstand nehmen müssen!))

Für Konfessionslose ist das Buch Cornelissens aber nicht nur interessant, weil es die Unhaltbarkeit der christlichen Vorstellungen von einem personalen Gott deutlich vor Augen führt, sondern auch, weil es darüber hinaus - und dies mag manchem Atheisten bitter aufstoßen - die prinzipielle Vereinbarkeit von Naturwissenschaft und panentheistischem, mystischem Gottesmodell aufzeigt.. Wie Cornelissen richtig darlegt, ist das "Ding an sich" ein Ding jenseits unserer Erkenntnis. Die Tatsache, dass die Welt jenseits der Subjekt-Objekt-Spaltung rational nicht zugänglich ist, bedeutet jedoch nicht, dass wir diese jenseitige Welt, die Welt jenseits der objektiven Erkenntnis, nicht doch irgendwie erahnen können. Viele Menschen - nicht nur religiöse - können über Momente der Ahnung des Unbegreiflichen, Unsagbaren berichten. (Auch Religionskritiker sind davor nicht gefeit: Wie Karlheinz Deschner habe auch ich z.B. ein Faible ausgerechnet für die Musik des Erzkatholiken Anton Bruckner, "weil sie was unsagbar und doch nicht zu verschweigen ist, für mich am schönsten sagt" (Deschner)) Die Psychologie nennt solche Erfahrungen Flowerlebnisse, Momente, in denen die Trennung von Subjekt und Objekt in einer Art "mystischen Verschmelzung mit dem Ganzen" (scheinbar) aufgehoben ist.

Cornelissen versieht nun dieses mystisch erfahrbare, jedoch sprachlich nicht erfassbare "Ganze" in Anlehnung an die Tradition der christlichen Mystiker mit der Vokabel "Gott". Auch wenn man - wie der Verfasser dieser Rezension - dem Begriff "Gott" prinzipiell ablehnend gegenübersteht, so muß man doch einräumen, dass es sich hierbei um genau jenen Gottesbegriff handelt, den wir bei vielen bedeutenden Physikern des 20. Jahrhunderts antreffen, z.B. bei Albert Einstein, der einmal schreib: "Je weniger Kenntnis der Forscher besitzt, um so ferner fühlt er sich von Gott. Je größer aber sein Wissen ist, um so mehr nähert er sich ihm." Werner Heisenberg formulierte: "... dieses Bewußtsein, der anderen, höheren Welt ist dabei etwas, das ganz unvermittelt, gewissermaßen von außen an uns herantritt, so daß wir gar nicht daran zweifeln können, daß eben eine andere Welt uns plötzlich gegenübersteht und uns fordert."

Was veranlasste die Elite der theoretischen Physiker wohl zu solchen Aussagen? Nun, eine wichtige Grundlage der von Cornelissen dokumentierten naturwissenschaftlichen Versöhnung mit dem Konzept "Gott" (wie gesagt: verstanden als "Inbegriff des Seienden" - nicht im Sinne des christlichen Schöpfergottes") war sicherlich die Entdeckung der Verflüchtigung der Materie auf subatomarer Basis und das damit einhergehende Erstaunen darüber, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts ist.

Interessant ist nun die Frage, ob das von Cornelissen skizzierte panenthetische, mystische Gottesmodell wirklich eine Antithese zu agnostischen, bzw. atheistischen Anschauungen darstellt? Ich denke, dies trifft nicht zu. Zum einen nämlich macht Cornelissen klar, dass über den mystisch erfahrenen "Gott", also das mystisch erfahrene "Ganze", keine vernünftigen Aussagen gemacht werden können (" Die Wahrheit des Buddhismus ist das Schweigen über das Göttliche" [S. 274]). Zum anderen muß man feststellen, daß ein "Gott", der als das "Ganze" gedacht wird, von nichts mehr abgrenzbar, d.h. mit allen - also keinen! - Eigenschaften behaftet ist. Mit einem solchen inhaltslosen Gott läßt sich keine Religion begründen, kein Scheiterhaufen anzünden, kein Glaubenskrieg führen. Ein solcher Gott ist alles und nichts: Heiliger und Sünder, Saufbold und Asket, Mars und Jupiter, er ist Atheist, Freidenker, Politiker, KFZ-Mechaniker, Bandwurm, Nasenspray, Fußballstadion, Briefbeschwerer und Beate-Uhse-Katalog. Kein vernünftiger Atheist sollte gegen einen solchen Leerformel-Gott etwas einzuwenden haben. Dies scheint auch Cornelissen erkannt zu haben, wenn er schreibt: "Man kann davon ausgehen, daß die meisten Menschen, die sich als Atheisten bezeichnen, in Wirklichkeit nur Anti-Theisten sind. Aber mit der Ablehnung eines aus pädagogischen Absichten gewählten Gottesmodells ist das Problem, auf das die Gottesfrage hinweist, natürlich in keiner Weise erledigt. Denn immer dann, wenn grundsätzliche Fragen zur menschlichen Existenz und zur Welt gestellt werden, stehen diese Fragen im Horizont des Metaphysischen." [S.288f.]

Fazit: Das theologische Buch von Cornelissen ist auch für Konfessionslose mit Gewinn zu lesen. Es entwirft ein mystisches "Gottesbild", das selbst für Atheisten rational nachvollziehbar ist. (Erinnern wir uns: Den guten alten Spinoza hatte man wegen einer ähnlichen Gotteskonzeption als Atheisten beschimpft, Giordano Bruno landete gar auf dem Scheiterhaufen der Inquisition!) So gescheit Cornelissens Ausführungen zum mystischen Gottesbild - zumindest streckenweise - sind, so schwach sind seine Begründungen des personalen, spezifisch christlichen Gottes. Während der Lektüre kam mir sogar der (sicherlich abwegige) Gedanke in den Sinn, daß Cornelissen womöglich den bewährten Trick alter Religionskritiker kopierte, der darin bestand, die besten Gottesbeweise zu widerlegen, die schlechtesten jedoch augenzwinkernd zu akzeptieren. Früher konnte einem diese Finte das Leben retten, heute rettet sie unter Umständen die Pension...

Rainer Schepper: Denn es steht geschrieben. Predigten eines Ungläubigen. Mit einem Vorwort von Hubertus Mynarek. Münster 1998. LIT; 128 Seiten, DM 24,80, ISBN 3-8285-3289-9

 1993 veröffentlichte Rainer Schepper mit "Gott beim Wort genommen" eine ebenso amüsante wie bissige Analyse des Alten Testamentes. Mit "Denn es steht geschrieben" richtet er seinen Blick nun auf die sogenannte "Frohe Botschaft" des Neuen Testamentes.

Und wieder einmal nimmt Schepper "Gott beim Wort". Die Perspektive der historisch-kritischen Bibelforschung, die danach fragt, inwiefern der biblische Text überhaupt auf historische Tatsachen zurückzuführen ist, ist hier nicht von Belang. Sein Anliegen ist, den von der Kirche als Gotteswort angepriesenen Text auf seinen ethischen Wert hin zu untersuchen.

Die in dem Buch versammelten 31 "Predigten eines Ungläubigen" zeigen dabei vor allem die eigentümliche Widersprüchlichkeit des biblischen Textes auf, die sich besonders augenscheinlich in den Charaktermerkmalen der zentralen biblischen Figur, Jesus von Nazareth, widerspiegelt. Da ist zum einen der "feinsinnige, eine hohe Ethik verkündende und verkörpernde einfühlsame Menschenfreund", zum anderen der "intolerante, selbstüberhebliche, selbstgerechte, ja machtbesessene Teufelsaustreiber und Höllenandroher."

Es ist vielleicht die größte Leistung Scheppers, daß es ihm gelingt, die Spannung zwischen diesen beiden ambivalenten Jesusbildern aufrecht zu halten. Hierdurch mag sich der/die eine oder andere gläubig Ungläubige möglicherweise ein wenig provoziert fühlen, doch es ist kaum zu bestreiten: Einzelne Passagen des Neuen Testaments sind - darauf weist Schepper zu Recht hin - durchaus beherzigenswert.

Dies bedeutet freilich nicht, daß das Neue Testament insgesamt ein ethisch vorbildliches Buch wäre, welches man kleinen Kindern unvorbereitet in die Hände geben dürfte. Gerade die Widersprüchlichkeiten der "Frohen Botschaft" begründen erst ihre eigentliche Gefahr, denn diese erst, so schreibt Schepper im Nachwort seines Buches, "haben dazu geführt, daß Theologie und Kirche dieses schädliche Buch [...] jeweils in ihrem sophistisch-jesuitischen Sinne auslegen, verkünden und verpflichtend machen können." Sein Fazit: "Insgesamt kann dieser Tatbestand bei jedem ehrlichen, ehrenhaft integren, selbständig denkenden Menschen nur Abscheu erregen. - Amen."

Schluß: Scheppers Buch ist einfach und packend geschrieben und empfiehlt sich als Lektüre insbesondere für Menschen, die weniger an religionswissenschaftlichen (an einigen Stellen hatte ich so meine Zweifel) als an ethischen Fragestellungen interessiert sind. Die originelle Idee, Bibelkritik in Form von Predigten zu verfassen, trägt zum Unterhaltungswert des Buches bei und mag kirchenaustrittswilligen Taufschein-ChristInnen helfen, den Verlust der allseits geliebten Sonntagspredigt zu verschmerzen. - Amen.

Fechtner/Friedrichs et al: Religion wahrnehmen. Festschrift für Karl-Fritz Daiber zum 65. Geburtstag.
Diagonal-Verlag, Marburg 1996.

Oliveira/Machado: Die Erscheinungen und die Botschaft von Fatima. Prophezeiungen der Tragödie oder der Hoffnung? Frankfurt/M. 1996.

  Um es gleich vorweg zu sagen: Die beiden vorzustellenden Bücher haben - außer dem Rahmenthema "Religion" - wenig Ähnlichkeit. Daß sie hier dennoch gemeinsam rezensiert werden, verdanken sie a) ihrer - wie wir sehen werden - höchst aufschlußreichen Unterschiedlichkeit; b) einem dummen Zufall - beide Bücher landeten nämlich am gleichen Tag auf dem Schreibtisch des Rezensenten.

 "Religion wahrnehmen" ist eine Festschrift zum 65. Geburtstag von Karl-Fritz Daiber, einem der progressiveren Theologen Deutschlands, der dank religionswissenschaftlicher/religionssoziologischer Arbeiten wie der 1995 erschienenen Monographie "Religion unter den Bedingungen der Moderne" Anerkennung auch im nichtkonfessionellen Spektrum gefunden hat.

Die Festschrift versammelt Aufsätze unterschiedlicher Güte. Manches ist belanglos (ein Problem vieler Festschriften), manches anregend (z.B. Gabriels "Anmerkungen zu einer Religionssoziologie jenseits des Säkularisierungsparadigmas"), einiges sogar amüsant (wie Josuttis´ Beitrag zum bewegenden Thema: "Fußball ist unser Leben - Über implizite Religiosität auf dem Sportplatz").

In der Tat: Die AutorInnen folgen dem Motto des Sammelbandes und nehmen "Religion wahr" - und zwar an den merkwürdigsten Stellen, so z.B. in der Psychologie (Stollberg), der sozialen Marktwirtschaft (Fahlbusch), in der Musik (Sommer), der Kunst (Dannowski/Drehsen), der Literatur (Schmidt), im Technotanz (Sachau), ja sogar im "Urlaub in Ostfriesland" (Lukatis).

Erstaunlich ist, was bei all diesen Exkursen übersehen wird: Auf 364 Seiten gelehrter Religionswahrnehmung findet sich kein einziges Wort über Fundamentalismus. Die politisch bedeutsamste Form religiöser Wirklichkeitskonstruktion wird gänzlich ausgeblendet. Ob man auf solche Weise Religion wahrnehmen kann, darf bezweifelt werden...

Insofern kann man das von der Initiative "Deutschland braucht Mariens Hilfe" verbreitete Büchlein "Die Erscheinungen und die Botschaft von Fatima" als wertvolle Ergänzung betrachten. Unverhohlen schlägt uns hier jener fundamentalistischer Eifer entgegen, der in der Daiber-Festschrift so gänzlich verdrängt wurde. Einer der Verfasser dieses mittlerweile hunderttausendfach aufgelegten Buches (von solchen Auflagenzahlen können Religionswahrnehmer der Daiber-Schule wahrlich nur träumen!) ist Plinio Corr? a de Oliveira, ein ehemaliger Professor für Kulturgeschichte, der 1960 unsterblich wurde durch die Gründung der TFP, der "Brasilianischen Gesellschaft zur Verteidigung von Tradition, Familie und Privateigentum" (!), einer ultrakonservativen Organisation, die mittlerweile Niederlassungen/Vertretungsbüros in zwanzig Ländern Amerikas, Europas und Afrikas aufweisen kann.

Zum Buch: In Fatima soll sich - so berichtet uns zumindest die kirchenamtlich beglaubigte Legende - im Jahre 1917 Erstaunliches zugetragen haben. Während Zehntausende die Sonne tanzen sahen, waren die kleinen Hirtenkinder Lucia, Francisco und Jacinta dazu erkoren, der Gottesmutter Maria (Tarnname: "Unsere Liebe Frau von Fatima") gleich sechsmal hintereinander zu begegnen. Die Jungfrau ließ die 7-10jährigen Kindern wissen, daß die sündige Welt eine furchtbare Strafe Gottes zu erwarten habe, und verriet ihnen ein dreiteiliges Geheimnis, das so schrecklich war, daß selbst gestandenen Kirchenleuten Tränen in den Augen standen. (Mit der Begründung, man wolle eine Panik unter den Menschen verhindern, hält der Vatikan übrigens bis heute den dritten Teil des Geheimnisses unter Verschluß.)

TFP-Chef Oliveira und Co-Autor Antonio Borelli Machado, dessen Werke nach Angaben der Herausgeber gleich millionenfach (!) unters gläubige Volk gebracht wurden, verkünden die Mär von Fatima mit kindlicher Naivität. Die Authentizität der Erscheinung sei verbürgt, meinen sie - und wie viele andere vor ihnen führen auch sie den vermeintlich schlagenden Beweis an, allein die Gottesmutter habe bereits 1917 die Machtübernahme der expansionslüsternen russischen Kommunisten sowie den Ausbruch des zweiten Weltkriegs vorhersagen können. Tatsächlich berichtet der zweite Teil des Fatima-Geheimnisses Erstaunliches: "Der Krieg [gemeint ist der 1. Weltkrieg, MSS] wird zwar zu Ende gehen, wenn aber Gott weiterhin beleidigt wird, beginnt unter der Regierung Pius´ XI. ein noch schlimmerer. Wenn ihr eine von einem unbekannten Licht erleuchtete Nacht seht, so wißt, daß dies das große Zeichen ist, das Gott euch als Hinweis darauf gibt, daß er die Welt für ihre Verbrechen mit Krieg, Hunger und Verfolgungen von Kirche und Papst strafen wird. Um dies zu verhindern, werde ich darum bitten, daß Rußland Meinem Unbefleckten Herzen geweiht wird und daß an den ersten Samstagen die Sühnekommunion gehalten wird. Wenn Meine Bitten erfüllt werden, wird sich Rußland bekehren und es wird Frieden herrschen; andernfalls wird es seine Irrtümer über die ganze Welt verbreiten, und es wird zu Kirchen und Kirchenverfolgungen kommen; die guten werden gemartert, der Heilige Vater wird viel zu leiden haben, mehrere Nationen werden vernichtet werden; doch am Ende wird Mein Unbeflecktes Herz triumphieren. Der Heilige Vater wird Mir Rußland weihen, das sich bekehren wird, und der Welt wird es gegeben sein, einige Zeit in Frieden zu leben."

Freilich: Bei näherer Betrachtung sind die vermeintlichen Weissagungen Mariens (Antikirchenpolitik des kommunistisch bestimmten Rußlands sowie Ausbruch des 2. Weltkrieges während der Amtszeit von Pius XI.) weit weniger wundersam als sie zunächst erscheinen mögen, denn die "Prophezeiungen" wurden nicht 1917, sondern 1941 aufgeschrieben, also zu einem Zeitpunkt, als die "vorhergesagten" Ereignisse bereits eingetroffen waren! Nur im Falle der Weihe Rußlands an das "Unbefleckte Herz Mariens" und der "Bekehrung Rußlands" könnte man tatsächlich von "Prophezeiungen" sprechen, wenn auch von selbsterfüllenden. Schließlich war es nicht zuletzt die Botschaft von Fatima, die die Päpste dazu drängte, die Welt (vor allem Rußland) dem "Unbefleckten Herz Mariens" zu weihen und das volle Engagement auf den Kampf gegen den Kommunismus und die Bekehrung Rußlands zu lenken. (In diesem Zusammenhang muß auch an die entscheidende Bedeutung von Johannes Paul II. im Rahmen der Veränderungsprozesse im Osten erinnert werden.)

Selbstredend: Bei Oliveira und Machado, die von der reichlich verspäteten Niederschrift der "Prophezeiungen" ohne jeglichen Argwohn berichten, sucht man Anzeichen kritischen Denkens vergebens. Für sie (wie für den Papst und seine treusten AnhängerInnen) ist die Botschaft von Fatima nicht nur absolut authentisch, sondern in ihrer Grundaussage auch aktueller als je zuvor. Mit Inbrunst warnen sie vor Gottes Strafe, schließlich habe sich "die sittliche Krise des Westens [...] seit 1917 nur noch verschlimmert": "Die erschreckende Unbeständigkeit der Ehen, Häuser der Prostitution, die sich schamlos sogar mit Leuchtreklamen an leicht zugänglichen Orten zur Schau stellen, die Hinnahme der Homosexualität als einer normalen Gegebenheit, die Zahl der Apostasien im Klerus und in den Reihen der kirchlichen Orden beiderlei Geschlechts, die vor allem mit der Geringschätzung des Keuschheitsgelübdes zu tun haben, die gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen, die sexuelle Aufklärung in den Schulen, all die künstlichen Mittel zur Einschränkung der Geburtenraten - so viele Symptome weisen auf die Entartung hin, die in der westlichen Gesellschaft immer weiter um sich greift."

Folgen wir den Autoren, so ist uns Heutigen göttliche Strafe gewiß. Was kann man unter den gegebenen Umständen für sein Seelenheil tun? Die AutorInnen empfehlen dreierlei: Erstens "nüchtern, wachsam und mutig" den Verfehlungen der Welt entgegenzutreten, zweitens die linke Unterwanderung von "Tradition, Familie und Privateigentum" zu bekämpfen, drittens täglich den Rosenkranz zu beten, schließlich sei der Rosenkranz "die große Lösung für die Probleme unserer Zeit..."

 Sicherlich: Viele werden die literarischen Ergüsse von Oliveira und Co. als harmlose Spinnereien abtun wollen. Allerdings sollte nicht vergessen werden, daß ähnliche "Spinnereien" die Menschheitsgeschichte bis heute entscheidend geprägt haben. So irrsinnig aufgeklärten Menschen die "Botschaft von Fatima" auch erscheinen mag, die Geschichte beweist: Nichts ist absurd genug, um nicht doch noch geglaubt und mit Waffengewalt verbreitet zu werden.

 Fazit: Wer "Religion wahrnehmen" möchte, der möge das gleichnamige Buch im Buchhandel erwerben. Er sollte aber nicht vergessen, zugleich auch das Fatima-Bändchen bei der "Deutschen Vereinigung für eine Christliche Kultur" (Postfach 500846, 60396 Frankfurt/M.) zu bestellen, um jegliche Verzerrung der Religionswahrnehmung zu vermeiden. Aber Achtung: Beide Bücher haben ihren Preis. Während man für "Religion wahrnehmen" im Geschäft rund vierzig Mark zahlen muß, kommt das Fatima-Buch auf den ersten Blick recht günstig daher (Unkostenbeitrag: 10 DM), allerdings muß man in Kauf nehmen, Monat für Monat zum Rosenkranzgebet aufgefordert zu werden. Wen solches nicht stört und darüber hinaus - wie der Verfasser dieser Zeilen - ein gewisses Faible für Rosenkränze, religiöse Kitschbilder und ähnliches hat, dem sei der Kauf dieser netten, kleinen Fundamentalistenbroschüre dringend empfohlen. Satisfaction guaranteed...

Goldner, Colin: Die Psycho-Szene. Aschaffenburg: Alibri, 2001. 642S., DM 59.

Frank Zappa hielt Dummheit für den Grundbaustoff des Universums. Nach der Lektüre von Goldners verdienstvollen Buch ist man versucht, dem amerikanischen Chefzyniker Recht zu geben. "Die Psycho-Szene" basiert auf der 1997 erschienenen Studie "Psycho: Therapien zwischen Seriosität und Scharlatanerie", die vom Autor gründlich überarbeitet, aktualisiert und um mehrere Kapitel erweitert wurde. Das Werk vermittelt einen umfassenden Überblick über den seit Jahren boomenden Esoterik-, Therapie- und Lebenshilfe-Markt. In rund 150 Kapiteln werden über 2000 Verfahren, Begriffe und Personen vorgestellt und kritisch unter die Lupe genommen. Ob Anthroposophie, Astrologie oder Bach-Blüten-Therapie, Channeling, Edelsteintherapie, Graphologie, Positives Denken, Rebirthing oder Tantra - Goldners Analysen treffen stets auf den Punkt und fördern die Ungereimtheiten der jeweiligen Ansätze deutlich zutage.

Goldner, der als Leiter einer Beratungseinrichtung für Therapiegeschädigte immer wieder mit den Folgeschäden unseriöser Therapieangebote zu kämpfen hat, untersucht die wundersame Welt der Lebensberater und selbst ernannten Therapeuten mit fundiertem Wissen und gespitzter Feder. Trotz des ungeheuren Informationsreichtums ist das Buch mit Genuss zu lesen, was nicht zuletzt auf den engagierten, bissig-ironischen, nie in billige Polemik abgleitenden Schreibstil des Verfassers zurückzuführen ist.

Ein besonderer Pluspunkt des Buches besteht darin, dass es neben konkreten Hilfen für Betroffene auch die vielfältigen Querverbindungen zwischen den einzelnen esoterischen Strömungen aufzeigt und die ideologischen Hintergründe des Esoterik-Marktes aufdeckt. In diesem Zusammenhang erweist sich "Die Psycho-Szene" als ein eminent politisches Buch. Nach all dem, was Goldner über die "braune Aura" esoterischer Heilslehren zusammengetragen hat, ist evident, dass es ein fataler Fehler wäre, "die Umtriebe der New-Age-Esoterik als harmlose Spinnereien abzutun." In der Tat stellen "autoritär zugerichtete und esoterisch entmündigte Menschen ein höchst gefährliches Potential zur Herausbildung faschistischer Ideologien und Strukturen" dar.

Auch wenn sich über manches Detail trefflich streiten ließe (was bei einem derart informationsreichen und engagiert geschriebenen Buch auch kaum anders zu erwarten ist): Colin Goldner ist mit "Die Psycho-Szene" ein Grundlagenwerk gelungen, das in keiner gut sortierten Bibliothek fehlen sollte. Bleibt zu hoffen, dass das von Goldner bereitgestellte Gegengift zur "sanften Verblödung des New Age" die erwünschte Wirkung zeigt.

Drewermann, Eugen: Hat der Glaube Hoffnung? Von der Zukunft der Religion am Beginn des 21. Jahrhunderts. Düsseldorf: Walter Verlag, 2000. 327S., DM 49,80, sFr 46,00.

Der streitbare Theologe Eugen Drewermann ist ein enorm produktiver Autor, der mittlerweile auf mehr als 60 Buchpublikationen zurückblicken kann. Das vorliegende Buch gehört sicherlich zu seinen Besten. Selten zuvor hat er die Schattenseiten der Religionen so klar hervorgehoben, ihre Funktion als Herrschafts- und Vertröstungsmittel in dieser Schärfe attackiert. "Kein Krieg ohne kirchlichen Beistand", schreibt Drewermann. Ob bei den Giftgasangriffen vor Verdun oder beim Abwurf der Atombombe auf Hiroshima - geistliche Würdenträger standen den Militärs stets hilfreich zur Seite. Drewermann kommentiert: "So nutzte die Religion dem Staatserhalt, so diente sie der Stählung und Stärkung des Gruppenegosimus der jeweiligen Kirchenklientel, so erwies Gott der Allmächtige seine Macht - und war doch bei alledem nichts weiter als ein ohnmächtiger Popanz, ein mißbrauchter Götze in den Händen spielender Pastöre, ein scheinbar unentbehrliches Dekorativum bestimmter Traditionsverbände. Zu spät der Aufruf der römischen Kirche im Jahre 2000 für eine Generalamnesie all ihrer Fehler und Verbrechen. Die Toten stehen nicht mehr auf, und die Überlebenden sind gewarnt."

Trotz der fundamentalen Kritik, die Drewermann an religiösen Institutionen (vor allem der katholischen Kirche) übt, setzt er große Hoffnung auf eine Wiederbelebung des Glaubens, der ihm als eine notwendige Alternative zur zunehmenden Durchökonomisierung aller Lebensverhältnisse erscheint. Ein solcher zukunftsfähiger Glaube müsse - so legt er unter Berufung auf die Geschichte des Jeremia dar - von jeglichen Formen der Fremdbestimmung und Außenlenkung befreit werden, die Zukunft der Religion liege allein im persönlichen Erleben der Individuen - jenseits der dogmatischen, lebensverneinenden Vorgaben religiöser Institutionen. Um diese Position zu begründen, sucht Drewermann u.a. Rat bei fernöstlichen Religionen und Weisheitssystemen (Buddhismus, Hinduismus, Taoismus). Diese hätten, so Drewermann, in vielen Punkten einen reiferen Zugang zu Gott bzw. zum Leben gefunden als das institutionalisierte Christentum.

Den monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam empfiehlt Drewermann, an die Stelle einer "historisch-äußerlichen Interpretation" der jeweiligen Quellentexte eine "symbolisch-innerliche" zu setzen. Während die historische Interpretation auf eine Begründung von religiöser und militärischer Gewalt hinausliefe, könne die symbolische Deutung den "Heiligen Krieg" entschärfen und als liebevolle Aufforderung zum Kampf mit dem "Unglauben im eigenen Herzen" begreifen.

Drewermann gibt sich in der Folge sehr viel Mühe, Möglichkeiten und Ergebnisse einer solchen symbolischen Deutung aufzuzeigen. Es bleibt aber fraglich, ob die von ihm dargelegte Perspektive überzeugend ist. (Wie soll man es z.B. symbolisch und "liebevoll" deuten, dass Gott nach Dt 7,1.2.5.16 die Völker der "Hethiter, Girgasiter, Amoriter Kanaaniter, Persiter, Hewiter und Jebusiter ausrottet" und auch seinem eigenen, "auserwählten Volk" befiehlt, keinerlei Gnade zu üben?)

An dieser Stelle zeigt sich die entscheidende Schwäche des Buches. Um die explosiven, menschenverachtende Gehalte der religiösen Quellentexte zu entschärfen, geht Drewermann mit der Bibel, dem Koran und der Thora um, als habe er Grimms Märchen vor sich liegen. (Bekanntlich hat er auch diese bereits einer neopsychoanalytischen Interpretation unterzogen.) Hieran wäre freilich nichts auszusetzen, wenn Drewermann diesen kritischen Denkansatz, der letztlich auf eine radikale "Entzauberung" religiöser Glaubenssätze hinausläuft, konsequent zu Ende führen würde. Stattdessen aber verwendet er weiterhin religiöse Leerformeln, die rein sprachlich noch den Kontakt zu einer Tradition aufrechterhalten, die er inhaltlich längst verlassen hat. (Nicht umsonst hat die römische Kirche ihn vor zehn Jahren vom Priesteramt suspendiert.)

Fazit: Drewermanns Kritik an institutionalisierter Religion, Staat und Wirtschaft ist über weite Strecken klar, präzise und sprachlich geschliffen (auch wenn er z.B. die Herrschaftsfunktion östlicher Religionen völlig übersieht). Im Kontrast hierzu wirken seine Lösungsangebote merkwürdig nebulös und in sich widersprüchlich. (Man fühlt sich an einen Ausspruch Jean Amérys erinnert, der hinter der scheinbar progressiven "Theologie der Lehrformeln" eine "nicht eingestandene Selbstsäkularisierung des Christentums" vermutete.) Möglicherweise aber macht gerade dieser Bruch das Buch interessant: Die Diskrepanz zwischen der Erkenntnis des ungeheuren Bedrohungspotentials, das von den Religionen ausgeht, und der enormen Schwierigkeit, diesem Bedrohungspotential eine tragfähige, menschliche Alternative entgegenzusetzen, kam selten so deutlich zur Geltung wie in diesem Buch.

Wuketits, Maria / Wuketits, Franz M.: Humanität zwischen Hoffnung und Illusion. Warum uns die Evolution einen Strich durch die Rechnung macht. Stuttgart: Kreuz-Verlag, 2001. 207S., DM 39,90/ sFr 36,90.

"Es gibt nichts Gutes, außer: man tut es!", meinte Erich Kästner. Legt man diesen Maßstab an die menschliche Geschichte an, gibt es verhältnismäßig wenig Gutes zu berichten. Maria und Franz Wuketits haben den Versuch unternommen, "unter Berücksichtigung biologischer, anthropologischer, psychologischer und historischer Tatsachen" zu erklären, warum wir einerseits die hohen Ideale der Humanität predigen, warum aber andererseits unser Denken und Handeln immer noch von Diskriminierung und Rassismus bestimmt sind, warum Kriege Dauereinrichtungen der Geschichte sind, warum das Elend der Hungernden das Gewissen der Satten nicht dauerhaft plagt usw.

Am Anfang der Untersuchung analysieren die Autoren die Geschichte der "Entdeckung des Menschen", eine Entdeckungsreise, die weitgehend von europäischen Ressentiments bestimmt war. Konfrontiert mit der kulturellen Vielfalt des Menschengeschlechts, zog die abendländische Anthropologie bis ins 20. Jahrhundert hinein eine scharfe Trennlinie zwischen sogenannten "Kultur- und Naturvölkern" bzw. zwischen "Menschen und Untermenschen", eine Unterscheidung, die in der Praxis ungeheures Leid unter die Menschen brachte (Beispiele: Kolonialismus, Rassenhass). Während sich das erste Kapitel auf solche Weise mit den Konflikten zwischen den Kulturen beschäftigt, untersucht das zweite Kapitel die in den Menschenbildern angelegten Herrschaftsstrukturen (Ranghierarchien) innerhalb einer Kultur (vor allem Begründungen charismatischer und bürokratischer Herrschaft). Kapitel 3 wendet sich der vornehmen Idee der Menschenrechte zu und analysiert ihre historische Entwicklung von den ersten Ansätzen in der Antike über die Magna Charta bis zur Menschenrechtsdeklaration. (Dabei wird u.a. deutlich, wie leicht sich der edle Gedanke der Humanität vor den Karren inhumaner Machtpolitik spannen lässt.)

Im vierten Kapitel untersuchen die Autoren die "inhumanen Kräfte unserer Natur", wobei sie besonderes Gewicht auf das biologische "Prinzip Eigennutz" legen, das altruistisches Handeln nur unter ganz bestimmten Umständen (Beispiel: "reziproker Altruismus") wahrscheinlich macht. Kapitel 5 nimmt die inhumanen Kräfte unserer Zivilisation" unter die Lupe und zeigt anhand konkreter Beispiele auf, inwiefern Religion, Staat und Wirtschaft humanitäre Bestrebungen schon im Keim ersticken. In den letzten beiden Kapiteln (Kapitel 6 und Epilog) versuchen die Autoren ein Fazit ihrer Untersuchung zu ziehen.

Zugegeben: Das Fazit am Ende dieses spannenden Buches wirkt ein wenig zwiespältig und unbefriedigend. Dies liegt jedoch nicht an den Autoren, sondern an der Situation, in der wir uns befinden. Vor dem Richtstuhl aufklärerischer Vernunft versagen einfache, eindeutige Lösungsmodelle. Die Idee der Humanität bleibt unverzichtbar, auch wenn sie leicht ausbeutbar ist und wohl kaum je befriedigend in die Tat umgesetzt werden kann. Es ist diese Widersprüchlichkeit, dieses Spannungsfeld von Hoffnung, Illusion und wissenschaftlicher Ent-Täuschung, das ausgehalten werden muss, wenn man der Welt in humanistischer wie realistischer Weise begegnen möchte. (Ein Humanist, der das Grauen in der Welt verschleiert, wird zum naiven Träumer, ein Realist, der die Welt so akzeptiert, wie sie ist, zum hoffnungslosen Zyniker. Es ist eine der Stärken dieses Buches, dass die Autoren diesen allzu einfachen Lösungen ausgewichen sind.)

Eben deshalb wirkt das Buch - trotz des nüchternen, illusionslosen Blicks auf die Menschheit - alles andere als destruktiv. Es ist leicht verständlich geschrieben und vermag den Leser zu fesseln wie ein guter Roman. Selbstverständlich konnten Maria und Franz Wuketits nicht alle Aspekte der weit gefächerten Thematik beleuchten. Aber durch die kompakte Schreibweise ist ihnen ein Werk gelungen, das viele Menschen ansprechen und zum Nachdenken anregen dürfte. Es ist zu hoffen, dass das Buch weite Verbreitung (z.B. als Grundlagenliteratur für den Ethikunterricht) findet. Schließlich ist es besser - so Ludwig Marcuse -, "das Gute steht nur auf dem Papier - als nicht einmal dort!"

Blackmore, Susan: Die Macht der Meme. Die Evolution von Kultur und Geist. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 2000. 413 S., DM 49,80/öS 364,-/sFr 46,-. (ISBN 3-8274-1002-9)

 "Jede Theorie verdient ihre bestmögliche Darstellung, und die hat Susan Blackmore der Memtheorie nun gegeben", schreibt Richard Dawkins im Vorwort dieses hochinteressanten Buches. Das Urteil kommt aus berufenem Munde, denn Dawkins selbst war es, der vor 25 Jahren die Initialzündung für die Theorie der Memetik gab. Er entwickelte den Begriff des "Mems" erstmals in seinem 1976 erschienenen Bestseller "Das egoistisches Gen", ein Buch, das weltweit zu hitzigen Debatten führte und schnell zu einem Klassiker des Neodarwinismus avancierte.
Dawkins hatte das "Mem" gewissermaßen als Gegenstück zum "Gen" konzipiert. Er wollte damit, so schreibt er im Vorwort zu Blackmores Buch, "das egoistische Gen auf die richtige Größe zurückstutzen", also verhindern, dass seine Leser und Leserinnen das "egoistische Gen" als das "Ein und Alles der Evolution" verstehen und alle menschlichen Verhaltensweisen auf den sogenannten "genetischen Eigennutz" zurückführen. Ein Fehler, den viele Soziobiologen nach Blackmores Auffassung auch heute noch begehen.
Was aber ist nun ein "Mem"? Dawkins fasste hierunter jegliche Idee, Verhaltensweise oder Fertigkeit, die anderen durch Imitation übertragen werden kann. Meme (beispielsweise Geschichten, Moden, Rezepte, Lieder) können gewissermaßen wie Viren von Gehirn zu Gehirn springen und den Geist der Menschen infizieren. Blackmore greift diesen Gedanken auf und versucht darzulegen, dass Meme sich in vielerlei Hinsicht ähnlich wie Gene verhalten, sich in einem harten Kampf um das Überleben befinden und durch Variation, Selektion und Vererbung die Evolution des Menschen vorantreiben.
Der Autorin gelingt es durch ihre angenehm lockere Sprache und einprägsame Beispiele, die auf den ersten Blick seltsam anmutende These von den sich selbst replizierenden Informationseinheiten nachvollziehbar zu machen. Sie provoziert zum Nachdenken, indem sie scheinbare Selbstverständlichkeiten hinterfragt ("Warum reden wir so viel?" "Warum können wir nicht aufhören zu denken?" "Was und wo ist das Ich?") und dabei zu überraschenden neuen Deutungen kommt (Wir reden zu viel, weil wir zur Verbreitung "unserer" Meme beitragen müssen; wir können nicht aufhören zu denken, weil die Meme in unseren Köpfen um ihr "Überleben" ringen; das sogenannte "Selbst" ist eine memetisch bedingte Illusion und existiert in Wirklichkeit überhaupt nicht).
Blackmore legt überzeugend dar, dass menschliches Verhalten nicht allein über den "biologischen Vorteil" erklärt werden kann. Insbesondere in den letzten Jahrzehnten habe der Wettstreit der Meme in eindrucksvoller Weise die Evolution von Geist und Kultur bestimmt. Weder der echte Altruismus (beispielsweise Initiativen für globale Gerechtigkeit oder intakte Umwelten) noch der Wandel der Sexualbeziehung (die Entkopplung von Sex und Fortpflanzung) könnten ohne Beachtung memetischer Selektionsprozesse begriffen werden. Gleiches gelte für die Bedeutung der Religionen, die Blackmore als ideologische "Memplexe" dem aufklärerischen Memplex der Wissenschaft gegenüberstellt.
Freilich: So faszinierend der gesamte Denkansatz auch ist und so gut er manchen Wandel der menschlichen Kultur auch erklären kann, er hat einen offensichtlichen Haken: Man kann sich Meme als selbständig agierende Replikatoren nicht vorstellen. Geschichten und Melodien mögen lebendig wirken, sind es aber nicht. Schon die Dawkinssche Vorstellung von Genen, die sich Körper schaffen, um sich fortpflanzen zu können, ist schwer nachvollziehbar. Umso grotesker mutet die Idee an, Meme würden eigenmächtig Gehirne, Bücher, Cds oder das Internet als "Vehikel" benutzen, um sich ausbreiten zu können.
Ist das Konzept der Meme also nichts weiter als eine "bedeutungslose Metapher", wie der bekannte Evolutionstheoretiker Stephen Jay Gould einmal formulierte? Nein. Es macht durchaus Sinn, davon auszugehen, dass Menschen sich so verhalten, als ob Meme selbstreplizierende Informationseinheiten wären. Unsere Gehirne konsumieren und erschaffen tagtäglich unzählige Meme, an deren Verbreitung und Untergang wir via Kommunikation teilhaben. Diese Meme in unseren Köpfen erwählen wir uns nicht in einem autonomen, memfreien Sinne, wir werden von ihnen wie von Parasiten regelrecht befallen. (Wer sucht sich schon freiwillig aus, den Werbeslogan "Nichts ist unmöglich! Toyota!" vor sich hin zu brummen, fragt die Autorin nicht zu Unrecht.)
Fassen wir zusammen: Susan Blackmore ist ein außergewöhnlich spannendes Buch gelungen, dass sowohl Laien faszinieren als auch Forschern neue Perspektiven aufzeigen kann. Selbst diejenigen, die den Auffassungen der Memetik kritisch gegenüberstehen, werden in diesem Grundlagenwerk fruchtbare Denkanregungen finden. Mit anderen Worten: Das Buch enthält einen reichhaltigen Schatz faszinierender Meme und es ist zu hoffen, dass sich so manches Gehirn von ihnen infizieren lässt.

 

Wuketits, Franz M.: Die Selbstzerstörung der Natur. Evolution und die Abgründe des Lebens. Düsseldorf: Patmos-Verlagshaus, 1999. 192 S., DM 39,80/öS 291,-/sFr 37,-

 "Mit Natur", schreibt Franz M. Wuketits, "verbinden viele Menschen grüne Wiesen mit bunten Blumen, das kristallklare Wasser einer Alpenquelle, Waldlandschaften, Vogelgezwitscher... Natur liefert uns idyllische Bilder: Friedlich auf einer Wiese grasende Kühe, deren Freßgeräusche von lieblichen Singvögeln und emsig die Blumen umsummenden Bienen übertönt werden; eine Schneelandschaft, in der Rehe friedlich dahinziehen und Hasen in ebenso friedlicher Absicht herumhüpfen. Doch der Schein trügt. Manche der Hasen überleben den Winter nicht, sie werden Opfer von Raubtieren, erfrieren oder verhungern. Und die friedlich grasenden Kühe treten in einen Ameisenhaufen und zerstören Hunderte von Leben; sie verursachen eine Katastrophe, die dem flüchtigen Blick des menschlichen Beobachters verborgen bleibt..."

Nachdem Franz M. Wuketits in seinem 1998 ebenfalls bei Patmos erschienenen Buch "Naturkatastrophe Mensch" den Glauben an eine evolutionäre Fortschrittsautomatik in Natur und Kultur als Illusion entlarvte, nimmt er in "Die Selbstzerstörung der Natur" das (gerade auch in der Umweltbewegung virulente) romantische Naturbild auf´s Korn. Er legt dar, dass die Zerstörung der Natur durch den Menschen "nur Teil einer evolutionären Logik ist, die im Wesen der Natur selbst liegt und mit Homo sapiens bloß eine neue Dimension erreicht hat." Die von Wuketits beabsichtigte Ent-Täuschung des lang gehegten romantischen Bildes von der "schönen", "guten" Natur erfolgt dabei weder aus Selbstzweck, noch aus dem Anliegen heraus, Naturschutzaktivitäten per se zu diskreditieren. Im Gegenteil: Wuketits macht deutlich, dass Naturschutz nur dann sinnvoll praktiziert werden kann, wenn wir uns schwärmerischer Naturromantik konsequent entledigen. Denn nur, wenn wir die prinzipielle Gleichgültigkeit "der Natur" gegenüber dem Wohl und Wehe einzelner Arten und Individuen zur Kenntnis nehmen, werden wir - vielleicht - in der Lage sein, die richtigen Schritte zu unternehmen, um das vorzeitige Aussterben unserer eigenen Spezies zu verhindern. Die "Natur" selbst, so betont Wuketits immer wieder, wird unser mögliches Aussterben ebenso wenig "stören" wie das Aussterben der vielen anderen Arten während der Jahrmillionen andauernden biologischen Evolution auf unserem Planeten.

Es ist fraglos eine der großen Stärken dieses Buches, dass es das romantische Naturideal in kompromissloser Schärfe mit dem weit weniger idyllischen Naturbild der Evolutionstheorie konfrontiert. Dabei gerät beinahe zwangsläufig auch das gegenwärtig so populäre Konzept der Selbstorganisation ins Kreuzfeuer der Kritik. Zwar ist auch Wuketits davon überzeugt, dass das Theorem der Selbstorganisation hilfreich ist, um die Eigendynamik komplexer Systeme zu verstehen. Er kritisiert aber die falschen Hoffnungen, die sich für viele aus diesem Konzept ergeben. Denn die "Natur" ist nicht per se auf höhere Organisationsformen, auf ein "besseres, harmonischeres Ganzes" ausgerichtet. Der evolutionäre Prozess ist vielmehr ein ziellos verlaufender "Zickzackweg auf dem schmalen Grad des Lebens", in dem Selbstorganisation und Selbstzerstörung stets Hand in Hand gehen.

Sicherlich kann man bemängeln, dass das Buch keine wirklich neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse liefert. In der Tat ist das gewaltige Vernichtungspotential der Natur seit längerem bekannt. (Wir wissen von mindestens fünf gewaltigen erdgeschichtlichen Katastrophen, bei denen ein Großteil der Tierarten ausstarben, so z.B. vor etwa zweihundertundfünfzig Millionen Jahren, als über achtzig Prozent der damals lebenden, marinen Tierarten für immer verloren gingen.) Das Buch ist dennoch auf seine ganz eigene Weise originell, denn es liefert einen selten klaren, ernüchternden und dadurch auch befreienden Blick auf "Mutter Natur". Es ist packend, anschaulich und auch für Laien verständlich geschrieben und vermittelt neben vielen hilfreich desillusionierenden Einblicken in die "Evolution und die Abgründe des Lebens" auch einiges von dem "typisch wienerischen" Humor seines Verfassers, der sich trotz allem Pessimismus der Erkenntnis zu einem klaren "?Ja? zum Leben" bekennt. Kurzum: Eine Anschaffung, die man nicht bereuen wird.

Böhm, Birgit; Janßen, Michael; Legewie Heiner: Zusammenarbeit professionell gestalten. Praxisleitfaden für Gesundheitsförderung, Sozialarbeit und Umweltschutz. Freiburg i. Breisgau: Lambertus-Verl., 1999. 160 S., DM 28,-/öS 205,-/sFr 26,50

Kooperative Projekte stehen hoch im Kurs, eine neue Planungskultur scheint im Entstehen begriffen. So manche Kommunalverwaltung verabschiedet sich von dem traditionellen Konzept bürokratisch-zentralistischer Planung und versucht - ganz im Sinne der Lokalen Agenda 21 - möglichst viele Akteure einer Kommune in den Planungsprozess mit einzubeziehen.

Kooperation aber will gelernt sein. So überzeugend die Ergebnisse eines breitangelegten Konsultationsprozesses im Idealfall auch sein können, so enttäuschend verlaufen die Bemühungen um Kooperation doch allzu häufig in der Praxis.

Eine Lektüre des von Birgit Böhm, Michael Janßen und Heiner Legewie nun vorgelegten Praxisleitfadens "Zusammenarbeit professionell gestalten" könnte dem entgegenwirken. Der Leitfaden ist hervorragend strukturiert, praxisnah und auch für Laien verständlich geschrieben. Er informiert detailreich über die verschiedenen Verlaufsphasen kooperativer Projekte, von der Konkretisierung der Projektidee (Vorbereitungsphase) über den Entwurf der Organisationsstruktur (Konstituierungs- und Planungsphase) bis zu Krisenmanagement und Ergebnissicherung (Durchführungsphase). Kommunikationspsychologische Aspekte (Kooperationskultur, Macht und Führung, Konflikte) werden im zweiten Teil des Leitfadens dargelegt. Auch hier zeichnet sich das Buch durch klare Gliederung und erfrischende Praxisnähe aus. Gleiches gilt für den abschließenden dritten Teil, der Grundlagen und Techniken der Moderation (u.a. Rolle und Aufgaben des Moderators, Visualisierung, Techniken der Problembearbeitung) thematisiert.

Fazit: Auch wenn man sich vielleicht ein etwas gründlicheres Sachregister gewünscht hätte und manches Verfahren (z.B. die von Jungk und Müllert entwickelte "Zukunftswerkstatt") wohl aus Platzgründen ausgeklammert werden mußte, der mit dem Berliner Gesundheitspreis 1998 ausgezeichnete Praxisleitfaden ist für alle im Sozial-, Gesundheits- und Umweltbereich Tätigen (Pädagogen, Psychologen, Soziologen, Verwaltungsfachleute, Mitglieder von Vereinen und Bürgerinitiativen) unbedingt empfehlenswert. Insbesondere LA 21- AktivistInnen, die angesichts der Vielfalt und Komplexität der anstehenden Probleme befürchten müssen, den Boden unter den Füßen zu verlieren, werden die vielen praxisnahen Hilfen zu schätzen wissen.

 

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