Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

Vortragsreihe: Musik und Politik

Teil 1:
Die tiefenpolitische Dimension der Musik oder: Warum es sinnvoll ist, über Geschmack zu streiten

Eine überarbeitete und erweiterte Version dieses Vortrags findet sich in dem Buch:
Marvin Chlada / Gerd Dembowski / Deniz Ünlü (Hrsg.): ALLES POP? Kapitalismus und Subversion. Alibri-Verlag. Aschaffenburg 2002.
Die Onlineversion des Artikels findet sich hier

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich muss gleich zu Beginn meines Vortrages gestehen, dass ich selten so große Schwierigkeiten hatte, meine Überlegungen in Worte zu fassen. Dies liegt nicht daran, dass mir das Thema fremd wäre. Im Gegenteil: Seit meiner frühsten Kindheit beschäftige ich mich intensiv mit Musik, sowohl als Konsument als auch als Produzent. Dabei spielte die Thematisierung des Zusammenhangs von Musik und Politik schon sehr früh eine wichtige Rolle. Schon mit knapp zwölf Jahren begründete ich meine heftige Aversion gegen kommerzielle deutscher Volks- und Schlagermusik damit, dass diese Musik die Massen verblöde und sie zu willfährigen Mitläufern völkischer Politprogramme machen würde. Später las ich Bücher von Eisler, Dessau, Lunacrskij und Henze, die meine politische Zugangsweise zur Musik untermauerten. Doch je mehr ich mich in dieses Themengebiet vergrub, desto klarer wurde mir die ungeheure Mehrdeutigkeit der Musik und meine eigene Unfähigkeit, sie in sauber abgrenzbare politische Schubladen zu pressen. War - um ein allseits bekanntes Beispiel zu geben - Wagners Musik wirklich reaktionär? Konnte man Beethovens Sinfonien tatsächlich als tönenden Freiheitswillen verstehen? Und wenn ja: warum krönten die Nationalsozialisten ihre totalitären Jubelveranstaltungen ausgerechnet mit einer Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie? Und warum - um alles in der Welt - hatte ich, der ich doch langsam zu einem scharfen Religionskritiker avancierte, ausgerechnet ein Faible für die Sinfonien des Erzkatholiken Anton Bruckner, der seine - vor allem im letzten Satz - ergreifende Neunte in naiver Gläubigkeit "dem lieben Gott" gewidmet hatte?

Postmoderne Theoretiker würden aus diesen Widersprüchen ableiten, dass musikalischer Geschmack eben beliebig und von weltanschaulichen Grundeinstellungen unabhängig ist. Ich halte diese Konsequenz jedoch für falsch. Die postmoderne Vorstellung von der Beliebigkeit des künstlerischen Geschmacks, die Abkopplung der Ästhetik von der Aussage, übersieht, dass Musik weit mehr ist als ein bloßes Spiel der Klänge. In ihr manifestiert sich ein bestimmtes Verhältnis zur Welt. Insofern ist Musik stets auch politisch, wenn auch auf eine merkwürdig abstrakte Weise. Sie lässt sich - sofern sie nicht kombiniert mit Sprache und/oder Bild auftritt - nicht auf konkrete politische Ziele festlegen. Musik wirkt nicht realpolitisch, sondern - so will ich es einmal formulieren - "tiefenpolitisch". Was es damit auf sich hat, werde ich versuchen, im Rahmen meines Vortrags darzulegen.

 

 

1. Musik und Politik

 

Die Geschichte der Musik ist - auch wenn dies lange übersehen wurde - eine politische Geschichte. Herrscher aller Zeiten haben sich der Musik bedient, haben gefällige Komponisten und Musikstile gefördert, ungefällige zensiert. Gebildete Herrscher beriefen sich dabei gerne auf den alten Platon, der in seinem berühmten Werk "res publica", zu deutsch: "der Staat", folgenden Dialog niederschrieb:

"Vor Neuerungen der Musik muss man sich in acht nehmen; denn dadurch kommt alles in Gefahr [...] Nirgends wird an den Gesetzen der Musik gerüttelt, ohne dass auch die höchsten Gesetze des Staates ins Wanken geraten. [...] Dort müssen also die Wächter ihr Wachhaus bauen: in die Nähe der Musik. - Ja, Gesetzlosigkeit dringt leicht in die Musik ein, ohne dass man es gewahr wird. - Freilich, sie scheint dort bloß Spiel zu sein und ohne üble Wirkung zu bleiben. - Sie hat ja auch keine andere Wirkung [...] als dass sie sich allmählich festsetzt und heimlich auf den Charakter und die Fähigkeit überträgt, dann weiter und offener um sich greift und das bürgerliche Leben vergiftet, dann mit großer Frechheit die Gesetze und die Verfassung angreift, bis sie schließlich alles zerstört, das ganze Leben des einzelnen sowohl wie der Gesamtheit."

Für Platon und seine Nachfolger hatte Musik eine wichtige Funktion innerhalb des Gemeinwesens: Sie diente der Etablierung bzw. der Festigung der Sittlichkeit, also erwünschter staatsbürgerlicher Tugenden. Gleichzeitig stellte sie aber auch eine große Gefahr dar, die zu kontrollieren, reglementieren war. Nicht erst die großen Diktaturen des letzten Jahrhunderts betrachteten das musikalische Geschehen daher mit Argusaugen. Die Unterscheidung von artiger und entarteter Kunst erfreute sich bereits einige Jahrhunderte vor dem Nationalsozialismus eifriger Beliebtheit. Man denke nur an die zahlreiche Kirchenkonzile, die festgelegten, auf welche Weise man Gott und die Kirche tönend zu preisen habe.

Zweifellos aber wurde Platons Ratschlag, das Wachhaus der staatlichen Wächter in der Nähe der Musik zu erbauen, niemals so offensichtlich verfolgt wie in den kommunistischen und faschistischen Regimen des 20. Jahrhunderts. Im real existierenden Sozialismus avancierte bekanntlich der sogenannte "sozialistische Realismus" zur unbedingten ästhetischen Doktrin. Komponisten, die sich diesen Maßgaben nicht anpassten, wurden als "Verräter der Revolution", als "bürgerliche Revisionisten" diskreditiert. Als besonders wichtig galt, musikalische Intellektualismen zu vermieden. Stalin wollte - wie jeder Diktator - eine einfache, eingängige, dem vermeintlich "gesunden Volksempfinden" entsprechende Musik. Während einer Beratung mit Vertretern der sowjetischen Musik im ZK der KPdSU machte der sowjetische Kulturfunktionär Shdanow dies überaus deutlich. "Es genügt nicht", führte er vor einer vor Angst erstarrten Riege von Komponisten aus, "dass Sie alle hoch und heilig versichern, Sie seien für eine Volksmusik. Wenn dem so ist, warum sind dann in ihren musikalischen Werken so wenig Volksmelodien verwendet? [...] Entwickelt sich bei uns etwa die sinfonische Musik in enger Wechselwirkung mir der Volksmusik - dem Lied, der Konzert- und Chormusik? Nein, das kann man nicht sagen. Im Gegenteil, hier klafft zweifellos ein Riss, entstanden durch die Unterschätzung der Volksmusik von seiten der Sinfoniker."

Was Stalin und seinen Funktionären recht war, war Hitler nur billig. Auch im deutschen Reich wurde musikalischer Intellektualismus gerügt und Volksmusik zur Basis des musikalischen Schaffens erkoren. Wahre Musik sei immer im Volkstum verwurzelt, wusste Propagandaminister Goebbels zu berichten. Am deutschen Wesen - auch am musikalischen - sollte die Welt genesen. Hören Sie hierzu einen Auszug aus der Ansprache, die Joseph Goebbels auf den Düsseldorfer Musiktagen 1939 hielt, gefolgt von einem typischen Beispiel nationalsozialistischen Musikschaffens, einem Propagandasong von Peter Kreuder, dessen Schlager "Sag zum Abschied, leise Servus", "Goodbye Jonny" und "Du bist zu schön, um treu zu sein" sich auch heute noch einiger Beliebtheit erfreuen.

 

 

Tondokument: Ansprache Goebbels/Das deutsche Volk am Donaustrand

 

 

 

Kreuder, der Komponist des soeben gehörten Liedes, war beileibe nicht der einzige Musiker, der sich dem Nazi-Regime anbiederte. Hunderte von Kompositionen waren dem Führer gewidmet. Ähnlich verhielt es sich im real existierenden Sozialismus. Selbst etablierte, international geachtete Komponisten erlagen der Versuchung, dem jeweiligem Regime zu dienen. Die markantesten Beispiele in Nazideutschland waren Werner Egk und Richard Strauss. In der DDR konnten sich Eisler und Dessau manch peinliche Regimehuldigungskantate nicht verkneifen. Paul Dessau ließ sich sogar zu der Plattitüde hinreißen, in seine Komposition "An die Mütter und an die Lehrer" die Kürzel der Partei, die immer recht hatte, (ES-E.D) melodisch einzuarbeiten.

Werfen wir aber nun einen Blick auf den Zusammenhang von Musik und Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Auch hier wurde - vor allem in den vierziger bis sechziger Jahren - die musikalische Entwicklung argwöhnisch beobachtet und - insbesondere in den christlichen Volksparteien - die Bedeutung einer gesunden, im Volkstum verwurzelten in den Vordergrund gerückt. So verkündete der ehemalige Bundespräsident Dr. h.c. Heinrich Lübke 1962 anlässlich der Jahrhundertfeier des Deutschen Sängerbundes:

"Keine Musikkultur wird auf Dauer gesund bleiben, wenn sie nicht aus den ursprünglichen Quellen des Volkstums gespeist wird."

Was Lübke damit meinte, verrät eine weitere Passage seiner Rede: "Es scheint mir bezeichnend für die innere Verfassung unseres Volkes zu sein, dass es bei uns noch nicht wieder zu einem neuen vaterländischen Singen gekommen ist."

Die verräterische Sequenz dieser Aussage - hierauf hat bereits Fred Prieberg in seinem ausgezeichneten Buch "Musik und Macht" hingewiesen lautet "noch nicht wieder". Drückt sich hier nicht das Bedauern aus, dass die naiv vaterländische, nationalsozialistische Musikkultur nach dem Ende des Krieges zerstört wurde? Dies ist kaum von der Hand zu weisen. Außerdem sollten wir nicht vergessen: Auf zünftigen CSU-Wahlkampfveranstaltungen ertönt noch immer die gleiche volkstümelnde Blasmusik, die dereinst Nazischergen in Bierlaune versetzte. Im vom Bundesverteidigungsministerium herausgegebenen Liederbuch der Bundeswehr "Hell klingen unsere Lieder" wurden bis in die sechziger Jahre hinein NS-Kriegslieder abgedruckt. Und wie groß ist auch heute noch die konservative Klage über den vermeintlich verderblichen Einfluss von Pop- und Rockmusik auf die Jugendlichen. Der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Friedrich Oberkogler z.B. sieht im Aufkommen der Pop-Musik gar ein sicheres Anzeichen für den bevorstehenden Untergang der Menschheit. Ich zitiere aus seiner Schrift "Pop-Musik. Faszination der Jugend.": "Seien wir uns an dieser Jahrtausendwende bewußt: die apokalyptischen Tiere haben sich aus dem Abgrund erhoben und beginnen ihre Herrschaft auszubauen, um Menschheit und Erde aus der Bahn ihrer wesenseigenen Entwicklung zu werfen. [...] Die Pop-Musik ist für diese Mächte eine Waffe, die in der Seelensphäre dem physischen Zerstörungswerk der Wasserstoffbombe in nichts nachsteht. [...] Nicht nur die ?Höhen?, auch der Abgrund hat seine Musik. Der ?Underground? des Pop ist in seiner Namensgebung symbolträchtiger, als er selbst es ahnt."

Zweifellos ist solche Rede in unseren Zeiten selten geworden. Die postmodern-pluralistische Kultur des Spätkapitalismus verlangt eine grandiose Vielfalt nicht nur der Goudasorten, sondern auch der Musikarten. Pop-Musik ist etabliert. Sie stellt keine Bedrohung mehr da. Warum auch? Sie gehorcht in der Regel sklavisch den Gesetzen des Marktes, die immer mehr auch unser politisches System bestimmen. Insofern ist das politische System gegenüber musikalischen Innovationen aufgeschlossen wie noch nie zuvor. Neue Musikstile - hier unterscheiden wir uns von Platon - werden das gegenwärtige Polit-System der Vermarktung kaum erschüttern. Im Gegenteil. Sie sind höchst willkommene Phänomene, versprechen sie doch eine Umsatzsteigerung in der Musikindustrie. Freilich: Die These eines Zusammenhangs von Musik und Politik wird dadurch nicht in Frage gestellt. Allein eine Musik, die das gängige Marktprinzip in Frage stellen würde, könnte dem gegenwärtigen System gefährlich werden. Doch um überhaupt gehört zu werden, müsste solch marktkritische Musik selbst erst einmal vermarktet werden. Ein Paradoxon, an dem so mancher subkulturelle Musiker verzweifelte.

 

 

 

2. Der große Diktator und die tiefenpolitische Dimension der Musik

 

Bisher habe ich ausgeführt, dass Musik stets in einem politischen Kontext produziert, rezipiert und von Herrschern kontrolliert wurde und wird. Nicht gefragt wurde bisher nach dem eigentlichen Kern, dem Wesen der Musik. Hat Musik wirklich politische Dimensionen, wie Platon behauptete? Wenn ja: Was macht dann das Politische in der Musik aus? Damit sind wir wieder bei jenen Fragen angelangt, die ich bereits am Anfang des Vortrags stellte: War bzw. ist Wagners Musik wirklich reaktionär? Warum spielten die Nationalsozialisten Beethovens Sinfonien? Und warum besitzt der Religionskritiker MSS sämtliche Sinfonien des Erzkatholiken Anton Bruckner, der ja nicht nur von marianischen Christen, sondern u.a. auch von Adolf Hitler glühend verehrt wurde? Bin ich vielleicht im Innersten meines Wesens ein Katholik oder gar ein Faschist?

Brennende Fragen, auf die ich erstmals eine befriedigende Antwort fand, als ich mir den Chaplin-Film "Der große Diktator" ansah. In diesem Film demonstriert Chaplin in grandioser Weise die politische Mehr- und Eindeutigdeutigkeit der Musik. Aber sehen sie selbst:

 

Filmausschnitt: Chaplin: Der große Diktator,
Szene: Hynkel tanzt mit dem Erdball

 

In dieser wichtigen Szene des Films stellt Chaplin symbolisch die Welteroberungsphantasien des Diktators Anton Hynkel dar. Zu den sphärischen Klängen aus Wagners Lohengrin-Vorspiel tanzt Hynkel mit dem Globus, bis dieser am Ende zerplatzt. Wagners Musik illustriert hier faschistische Allmachtsphantasien.

Wenden wir uns nun einer zweiten entscheidenden Szene des Films zu. Chaplin spielt in seiner Hitler-Parodie nicht nur den Diktator Anton Hynkel, sondern auch einen kleinen, bescheidenen Friseur aus dem jüdischen Ghetto. Nachdem der Friseur aus dem Konzentrationslager geflüchtet ist, kommt es aufgrund der äußerlichen Ähnlichkeit der beiden Figuren zu einer verhängnisvollen Verwechslung: Der Diktator landet im Lager, während sich der Friseur am Rednerpult wiederfindet. Die braunen Massen erwarten den Marschbefehl, doch der als Hynkel verkleidete Friseur will niemanden erobern, ausbeuten, ermorden. Stattdessen hält er eine fulminante Rede über Demokratie, Freiheit, Gleichberechtigung, ruft rührend pathetisch zum Aufbau einer besseren, gerechteren Welt auf. Achten Sie bitte auf die Musik am Ende dieser Rede.

 

Filmausschnitt: Chaplin: Der große Diktator.
Schlußszene: Rede des Friseurs. Hannah blickt nach oben.

 

 

Haben Sie die Musik wieder erkannt? Wenn ja, haben Sie richtig gehört. Auch an dieser Stelle verwendet Chaplin Wagners Lohengrin-Vorspiel. Doch wie kann das sein? Ist Musik so beliebig, dass sie sowohl faschistische Allmachtsphantasien als auch flammende Aufrufe zu Demokratie illustrieren kann? Es scheint so. Allerdings darf man hierbei nicht übersehen, dass hinter der offensichtlichen Gegensätzlichkeit der politischen Ziele doch eine große Gemeinsamkeit steckt. Hynkels Eroberungsphantasien und die flammende humanistische Rede des Friseurs haben eine identische tiefenpolitische Struktur. Beide sind Ausdruck des sehnsüchtigen Verlangens nach Überwindung der als defizitär empfundenen Wirklichkeit. Beide wollen radikale Veränderung, sie streben nach Erlösung, wollen die Grenzen der gegenwärtigen Situation utopisch überschreiten. Allein deshalb eignet sich Wagners Musik in beiden Fällen. Mit Mozarts kleiner Nachtmusik hätte Chaplin die beiden Szenen nicht untermalen können.

Musik kann demnach tiefenpolitisch eindeutig, realpolitisch hingegen vieldeutig sein. Erst in Kombination mit Wort und/oder Bild lässt sich die politische Tiefenstruktur der Musik in ein realpolitisches Gewand pressen. Dies ist der Grund dafür, dass die Musik der politischen Rechten und der politischen Linken oftmals austauschbar waren und sind. Bei aller oberflächlichen Unterschiedlichkeit ihrer Programme basierten sie doch auf einer ähnlichen Tiefenstruktur, auf einer ganz bestimmten affektiven Positionierung hin zur Welt.

Kommen wir nun zurück auf meine doch etwas peinliche Brucknerleidenschaft: Die Tatsache, dass ich mir hin und wieder die Sinfonien von Bruckner zu Gemüte führe, ist sicherlich kein Zeichen dafür, dass ich die politischen und religiösen Überzeugungen dieses erzkonservativen Mannes teilen würde. Im Gegenteil. Ähnlich wie Karlheinz Deschner, der sich merkwürdiger Weise auch dazu bekannte, Bruckner zu hören, genieße ich trotz der Frömmelei des Komponisten dessen eigentümliche Sinfonik, weil sie mir das unfassbare, unbegreifliche, unausprechliche Wunder des Lebens musikalisch zumindest erahnen lässt. (Ähnliches würde ich auch im Falle Arvo Pärts sagen, dessen weltanschuliche Überzeugungen ich in vielen Punkten ebensowenig teile wie die Bruckners,)

Anders formuliert: Ich liebe in gewisser Weise die Musik Bruckners, weil ich auf einer bestimmten tiefenpolitischen Ebene ähnlich empfinde. Man kann es vielleicht mit dem Ausdruck "Demut" umschreiben - mir fällt im Moment kein besserer Begriff ein. Bei Bruckner war es die Demut vor der Größe des christlichen Gottes. In meinem Fall ist es die Demut vor der unbegreiflichen Größe des Kosmos bzw. der merkwürdigen Tatsache, dass wir sind und nicht vielmehr nicht sind.

(Nebenbei - bevor Sie sich nun um meinen Geisteszustand sorgen: Freilich höre ich auch Musik, die ästhetisch wie tiefenpolitisch mit der Musik Bruckners überhaupt nicht kompatibel ist. So genieße ich zum Beispiel ebenso die dionysische Primitivität, die pure sexuelle Energie eines AC/DC-Riffs, die spielerische Leichtigkeit eines Soulgrooves oder die selbstzerfleischende Düsternis eines Nirvana-Songs.)

Erst das gesamte musikalische Geschmacksspektrum eines Menschen gibt Auskunft über seine tiefenpolitische Grundstruktur, oder einfacher ausgedrückt: seine Persönlichkeit, seinen Charakter. Ein wenig überspitzt könnte man sagen: Sag mir, welche Musik du hörst - und ich sage dir, wer du bist. Dies gilt nicht nur für Individuen, sondern durchaus auch für Gesellschaften.

 

Wie sehr der tiefenpolitische Gehalt von Musik ihre gesellschaftliche Rezeption bestimmt, lässt sich sehr schön am Beispiel Gustav Mahlers erläutern. Mahler, selbst ein großer Verehrer des ihm intellektuell weit unterlegenen Anton Bruckner, gilt heute als der große Komponist der klassischen Moderne, als "Zeitgenosse der Zukunft". Seine Sinfonien gehören zu den meist gespielten in der ganzen Welt und es ist kein Zufall, dass die als krönender Abschluss des Jahrhunderts gedachten Berliner Festwochen 1999 ausgerechnet das Gesamtwerk Mahlers zu Gehör brachten. Die besondere Hochachtung, die Mahler heute genießt, ist allerdings neueren Datums. Bis in die sechziger Jahre hinein galt Mahler als gescheiterter Komponist, dessen groß dimensionierte Sinfonien von zu hohen Ansprüchen und zu geringem Können zeugten. Man sah in ihm einen "Potpurrikomponisten", der sich aus verschiedenen Stücken bewährter Komponisten seine Werke zusammenklaubte, ohne schöpferischen Gestaltungswillen, schwach, intellektualistisch, uninspiriert, von seltsamen Leidenschaften geplagt. Erst mit den gewaltigen kulturellen Veränderungen der späten Sechziger wandelte sich das Bild. Dies lag nicht allein daran, dass man sich damals verstärkt den Opfern nationalsozialistischer Zensur annahm. Auch nicht allein daran, dass die neu aufkommende Stereo-Schallplatte die Raumdimensionen der Mahlerschen Musik besser transportieren konnte. Entscheidend war sicherlich, dass die tiefenpoltitische Struktur der Mahlerschen Musik irgendwie den Puls der Zeit traf. Mahlers Zerrissenheit, seine Skepsis, sein Willen und seine gleichzeitige Unfähigkeit zu naivem Glauben machte ihn attraktiv in einer Zeit, in der viele Menschen - insbesondere der jüngeren Generation - den tradierten Weltentwürfen, Werten und Überzeugungen der Vergangenheit keinen Glauben mehr schenken konnten. Das, was noch wenige Jahre zuvor als Zeichen künstlerischer Unausgewogenheit galt (z.B. die ironische Aufhebung des Trauermarsches im dritten Satz seiner 1. Sinfonie), wurde nun als besonderes Signum der ungewöhnlichen künstlerischen Reife Mahlers gedeutet. Meines Erachtens kommt die ungeheure, auch heute noch aktuelle Zerissenheit und existentielle Spannung der Mahlerschen Musik besonders gut im letzten Satz der in der Orchestrierung unvollendet gebliebenen 10. Sinfonie zum Ausdruck. Hören Sie nun einen Auszug aus diesem letzten Satz Mahlers. Meines Erachtens wurde weder zuvor noch danach jemals etwas vergleichbar Erschütterndes komponiert.

 

Hörbeispiel: Mahler: 10. Sinfonie, 5. Satz: Finale

 

Fazit

 

Lassen Sie mich nun zum Abschluss das bisher Gesagte zusammenfassen: Ich habe versucht darzulegen, dass Musik weit mehr ist als bloße Organisation von Klangmustern in Raum und Zeit. Musik ist niemals reine Form. Sie ist stets Ausdruck existentieller tiefenpolitischer Inhalte, die alles andere als beliebig sind. Und gerade deshalb macht es Sinn über Geschmack in der Musik zu streiten. Die Musik, die wir hören, ist nicht beliebig, sondern Ausdruck unseres spezifischen Verhältnisses zur Welt. Da es nicht gleichgültig ist, wie sich ein Mensch zur Welt stellt, ist es auch nicht gleichgültig, welche Musik er hört.

Das Projekt der Aufklärung endet nicht an den Pforten zur Ästhetik. Wir sollten über Geschmack streiten wollen, denn musikalische Dummheit ist so gefährlich wie jede andere Dummheit auch. Um nicht missverstanden zu werden: Ich plädiere hier nicht für eine einseitig intellektuelle, kopflastig fortschrittliche Musik. Nein, unsere Musik - oder vielleicht sage ich besser: unsere Musiken sollten die gesamte Fülle des Lebens widerspiegeln können. Sie sollten mal lebhaft, mal niedergeschlagen, mal hoffnungsvoll, mal skeptisch sein, sie sollten uns Material zum Denken und zum Empfinden geben, mal Kopf, mal Unterleib ansprechen. Einseitigkeiten sollten wir dringend vermeiden. In einer Gesellschaft, in der nur gregorianische Gesänge, Bruckner-Sinfonien und Arvo Pärtsche Kammermusik gespielt würden, wollte ich ganz sicherlich nicht leben. Man würde mich wahrscheinlich auf dem nächstbesten Scheiterhaufen als Ketzer verbrennen. Ebenso wenig aber möchte ich in einer Gesellschaft leben, in der von morgens bis abends hochgestylte Popmusik erklingt. In Anbetracht der damit einhergehenden dümmlichen Oberflächlichkeit würde ich mich möglicherweise selber verbrennen wollen, freilich ohne dass dies im bunten Allerlei des Marktgeschehens groß bemerkt würde.

Abschließende Frage: Hatte Platon nun recht? Kann Musik tatsächlich die Welt verändern? In gewissem Sinne ja. Sie verändert die Welt, indem sie unser Verhältnis zur Welt verändert. Und sie macht dies auf eine geheimnisvolle, sprachlich kaum fassbare, eine die Tiefenschichten unseres Ichs beeinflussende Weise. Allerdings - und dies scheint Platon doch übersehen zu haben: Eine neue Musik, die potentiell in der Lage ist, die Welt zu verändern, fällt selbst nicht vom Himmel. Vielmehr ist sie das Produkt bereits veränderter Umweltbedingungen. Insofern muss man festhalten, dass die Musik nur dann die Welt verändern kann, wenn sich die Welt anschickt, die Musik und die sie produzierenden Musiker zu verändern. Ein interessantes dialektisches Verhältnis, auf das ich morgen etwas näher eingehen werde.

Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit.

 

 Teil 2: Kann Musik die Welt verändern? Die Musik der alten und neuen Linken

home.gif (20220 Byte)