"Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, der braucht keine Religion"
Interview mit Michael Schmidt-Salomon in der ostbelgischen Tageszeitung „Grenz-Echo“

Freitag, 12. Mai 2006


Sie sind im „schwarzen“ Trier aufgewachsen. Wann und weshalb haben Sie das Christentum abgelegt?

Etwa mit fünfzehn Jahren begann ich, mich ernsthaft mit theologischen, philosophischen und wissenschaftlichen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Ich las nicht nur die Bibel gründlich, sondern auch die einschlägigen Werke von Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Marx, Freud, Fromm, Feuerbach, Russell und Deschner. Dadurch entwickelte ich sehr früh ein Bewusstsein sowohl für die intellektuelle Widersprüchlichkeit als auch für die ethische Problematik des Glaubens. Spätestens mit siebzehn Jahren war mir klar: Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, der braucht keine Religion.

 

Es gibt auch heute hochgebildete Menschen, darunter selbst Wissenschaftler, die an Gott glauben. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Zunächst sollte man festhalten, dass der Anteil wirklich gläubiger Menschen innerhalb der Gruppe der Spitzenwissenschaftler sehr gering ist. 1998 veröffentlichte die britische Fachzeitschrift „Nature“ eine Studie, die zu dem Ergebnis kam, dass 93 Prozent der amerikanischen Spitzenwissenschaftler, nämlich die Mitglieder der „National Academy of Sciences“, sich als „nicht-religiös“ verstehen, was angesichts der Dominanz des religiösen Glaubens in den USA ein beachtliches Ergebnis ist. Ich will aber nicht bestreiten, dass es mitunter auch hochgebildete Menschen gibt, die an den Offenbarungsreligionen festhalten. Wie ist das zu erklären? Ich denke, hier sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: Erstens sind viele Menschen bei genauerer Betrachtung ungläubig, ohne dies selbst zu bemerken. Sie vertreten eine aufklärerisch gezähmte, inhaltlich vollkommen ausgehöhlte „Light-Version“ des Glaubens, die man keineswegs mit einem echten, ungezähmten, authentischen Glauben verwechseln sollte. Komplizierter wird die Angelegenheit, wenn wir die zweite Gruppe betrachten, nämlich die zahlenmäßig kleine Gruppe hochgebildeter Glaubensfanatiker. Diese setzen ihre intellektuellen Fähigkeiten offenbar dazu ein, um das von ihnen vertretene Wahnsystem mittels Rationalisierungen hermetisch gegen die Außenwelt abzuschirmen – eine Immunisierungsstrategie, die viele Psychiater aus ihrer Praxis kennen dürften. Klar ist: Bildung schützt vor Wahnsinn nicht. Wenn Menschen ausreichend traumatisiert wurden, können besondere intellektuelle Fähigkeiten sogar zu einer Verstärkung des Krankheitsbildes beitragen…

 

Sie waren ein entschiedener Gegner des Weltjugendtags. Trotzdem kamen etwa eine Million junge Menschen im letzten Sommer nach Köln, um den Papst zu sehen. Wie betrachten Sie diesen Erfolg der katholischen Kirche?

Seit Jahrzehnten verlieren die Kirchen in Europa kontinuierlich an Mitgliedern, was unter anderem dazu geführt hat, dass in Deutschland mittlerweile mehr Konfessionslose als Katholiken oder Protestanten leben. Zudem ist die Glaubensfestigkeit auch unter den verbliebenen Kirchenmitgliedern nicht gerade stark ausgeprägt. In dieser Situation kommen die Kirchen gar nicht umhin, mediale Happenings zu inszenieren, um sich und der Gesellschaft zu beweisen, welch enorme Bedeutung sie vermeintlich noch haben. Unglücklicherweise scheint diese Strategie zumindest teilweise aufzugehen. Hunderttausende „friedliche Pilger“ liefern nun einmal großartige Bilder. Demgegenüber interessierte es nur die wenigsten Beobachter, aus welchen Gründen die Jugendlichen überhaupt nach Köln fuhren bzw. was die vielen Millionen Menschen dachten, die diesem katholischen Woodstock-Spektakel fernblieben. Ich bezweifle allerdings, dass solche religiösen Inszenierungen ausreichen, um den gesellschaftlichen Trend hin zur Säkularisierung umzudrehen, Wahrscheinlich bräuchten die Kirchen schon eine weitaus stärkere Schützenhilfe durch radikale Islamisten, um das Rad der Geschichte zurückdrehen und aus Europa wieder eine stabile, „christliche Glaubensburg“ machen zu können. Dass die Kirchen den „Karikaturenstreit“ als Vorlage nutzen, um ihrerseits massiv gegen religiöse Satiren vorzugehen (jüngster Fall: die einstweilige Verfügung gegen die MTV-Serie „Popetown“), sollte in diesem Zusammenhang nachdenklich stimmen…