Michael Schmidt-Salomon

Die mit den Schafen blöken…

MIZ 3/2002
Heft-Schwerpunkt:
Die mit den Schafen blöken... - Bundestagsparteien auf dem Prüfstand
(siehe auch: www.miz-online.de/)

Es ist wirklich ein Kreuz mit diesem verdammten Kreuzchen: Alle Jahre wieder stehen wir vor der Qual einer Wahl, die unter konfessionsloser Perspektive längst schon zu einer Wahl der Qual verkommen ist. Konsequent aufgeklärte, freigeistige Positionen sind in den Wahlprogrammen der Parteien kaum noch zu finden.

Sicherlich: Von Meister Ede, dem Deutschorden-Ritter und -Retter aus Bayern, war ohnehin nichts anderes zu erwarten. Im Gegenteil: Stoiber präsentierte sich im Wahlkampf um einiges liberaler, als er in Wirklichkeit ist. Dass er sich beispielsweise „von den Kirchen einen weit größeren Missionsdrang“ erhofft, verriet er nur ausgesuchten Provinzblättchen, der allgemeinen Medienlandschaft hingegen stellte er sich als „Mann von Welt“ vor und trat sogleich den sinnfälligen Beweis an, indem er eine „allein erziehende Mutter“ (Himmelsakrament!) in sein sog. „Kompetenzteam“ berief.

Auch von der SPD waren aufklärerische Impulse nicht wirklich zu erwarten. Big Boss Schröder war und ist kein Meister der Aufklärung, sondern der Abklärung, pardon: der Abgeklärtheit. Unter seiner Führung erkannten die Sozialdemokraten ihr Seelen- und Stimmen-Heil zunehmend in einer schamlos zur Schau gestellten, weltanschaulichen Substanzlosigkeit. Die oberste Devise lautet: Augen und Ohren zu, Konfrontationen vermeiden, nett sein und sich irgendwie durchwursteln, Hauptsache, das Haupthaar des Kanzlers ist ungetönt.

Dass die Polit-Großkonzerne CDU/CSU und SPD im Kampf um die sog. „Mitte“ nicht zum Schwert der Aufklärung greifen würden, war vorab abzusehen, enttäuschend aber ist der „fortschreitende Rückschritt“ aufklärerischen, freigeistigen Denkens bei den potentiellen Juniorpartnern FDP und Bündnis90/Die Grünen (siehe hierzu den Beitrag von Gunnar Schedel in dieser MIZ). Dass die FDP-Bundestagsfraktion im Streit um die von der Union geplante Verschärfung des sog. „Gotteslästerungsparagraphen“ §166 StGB sich lediglich der Stimme enthielt und nicht in aller Schärfe gegen ein solch rückständiges Vorhaben protestierte, macht deutlich, dass die Liberalen bereit sind, sogar den Kernbestand der eigenen Tradition zu verleugnen, wenn dies machtpolitisch opportun erscheint.

Bleibt noch die PDS. Die aber, so meinte Schröder im TV-Duell mit Stoiber, sei noch lange nicht in dieser Republik, sprich: der bundesdeutschen Realität, angekommen. Zumindest was die Problematik „Trennung von Staat und Kirche“ betrifft, scheint diese Aussage durchaus zuzutreffen. Man kann der PDS sicherlich nicht vorwerfen, dass sie auf irgendeine Weise beabsichtige, mit den Schafen zu blöken. Dass sie aber nach all den Jahren immer noch nicht mitbekommen (und problematisiert!) hat, wie unverhältnismäßig oft das Blöken der Schafe (vornehmlich artikuliert von der katholischen Bischofskonferenz bzw. der EKD) in der bundesdeutschen Politik Gehör findet, muss nachdenklich stimmen.

Es ist einigermaßen erstaunlich, dass die ständig wachsende Gruppe von Konfessionslosen politisch nur von jenen ernst genommen wird, die auf der anderen Seite des weltanschaulichen Grabens kämpfen. (Ein Musterbeispiel hierfür ist CSU-Guerillero Norbert Geis, der sich – siehe unsere Dokumentation der §166-Debatte – als gläubiger Christ mittlerweile schon als Mitglied einer randständigen Minderheit begreift!)

Für die meisten anderen jedoch scheinen die Konfessionslosen als politisch relevante Bevölkerungsgruppe überhaupt nicht zu existieren. Dies ist natürlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Konfessionslosen im Unterschied zu den Kirchen nicht über finanz- und mitgliederstarke Institutionen verfügen. Zusätzlich wird hier wohl noch ein psychologischer Effekt wirksam sein: Dadurch, dass die meisten Politiker selbst mit der christlichen Lehre kaum noch etwas anfangen können und ihre anders lautenden Lippenbekenntnisse auf bloßen Leerformeln beruhen, neigen sie dazu, das Thema „Religion/Weltanschauung“ insgesamt zu bagatellisieren.

Es scheint so, als sei die Politik auf weltanschaulichem Auge blind geworden. Mag sein, dass nach dem 11. September und dem Amoklauf von Erfurt die Frage nach gesellschaftlich verbindlichen Werten und ihrer Begründung ein stärkeres Gewicht zugefallen ist. Tragischerweise aber griffen die politisch Verantwortlichen zur allgemeinen Gemütsberuhigung schnell zu den ollen Kamellen aus der religiösen Wertetruhe, anstatt die Ursachen der Probleme nüchtern zu analysieren und nach wirklichen Lösungen zu suchen. Auch der deutliche Hinweis der PISA-Studie, dass das Land hoffnungslos in der Aufgabe versagt, Kinder aus anderen Kulturen zu integrieren, wurde nicht genutzt, um ein integratives und zukunftsweisendes Fach wie LER bundesweit als Pflichtfach zu fordern. Stattdessen soll nun der Islamunterricht eingeführt werden. Das klingt progressiv, multikulturell, weltoffen, ist aber bei genauerer Betrachtung dreistdumm, denn so wird ein weiteres Mal der Bock zum Gärtner gemacht.

Was also tun? Gunnar Schedel weist in seinem Beitrag mit Recht daraufhin, dass man die „Stimmabgabe“ bei der Bundestagswahl nicht allzu wörtlich nehmen sollte. In der Tat sollten die Konfessionslosen lautstärker als bisher ihre Interessen artikulieren und energisch darauf hinweisen, dass gesellschaftlicher Fortschritt nur durch eine Stärkung des aufklärerischen Denkens möglich ist. Vielleicht werden dadurch irgendwann auch die bundesdeutschen Politiker erkennen, dass es weder zum guten Ton gehört, mit den Schafen zu blöken, noch dass es ihnen allzu viele Stimmen einbringen wird: Denn die Kirchen in Deutschland stützen sich nicht nur auf einen imaginären Hirten, sondern auch auf eine imaginäre Schafsherde. Echte Christen wie Norbert Geis sind nicht nur im deutschen Bundestag in der Minderheit, sondern auch in der Bevölkerung. Es wird Zeit, dass die Politik dieser Entwicklung Rechnung trägt…

Michael Schmidt-Salomon, August/September 2002

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